Kapitel 27

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Keine Ahnung, wie lange ich schon unter diesem Busch lag. Aber es war etwa fünf Minuten, nachdem ich Luca losgeschickt hatte, völlig still geworden im Wald. Keine Schüsse mehr, aber auch keine lauten Stimmen oder Befehle. Oder Schritte, die sich näherten oder entfernten. Nicht einmal das kleinste Rascheln war zu hören. Hatten die sich alle gegenseitig totgeschossen? Lebten Floh und Papa womöglich nicht mehr?

Ich zwang mich zur Ruhe. Wenn ich der Verzweiflung jetzt nachgab, würde das niemandem nützen - schon gar nicht mir selbst. Also lag ich weiterhin zitternd unterm Busch.

Dann kamen die Schatten. Dunkle Wolken zogen auf. Innerhalb von Minuten wälzten sie sich am Himmel heran und tauchten alles in gruseliges Dämmerlicht. Auch der Wind frischte auf - kurz darauf fielen die ersten Regentropfen. Erst einzelne, dann immer heftiger. Innerhalb kürzester Zeit war ich klatschnass, trotz der relativ großen Blätter des Buschs. Sofort war mir eiskalt. Plötzlich fiel mir auf, wie durstig ich eigentlich war. Schnell drehte ich mich auf den Rücken und ließ den Regen in meinen geöffneten Mund fallen. Langsam rann das Wasser meine ausgedörrte Kehle hinunter und ich konnte nicht verhindern, erleichtert zu seufzen.

Doch innerhalb von Minuten wimmelte es auf den trockenen Stellen unterm Busch nur so von Spinnen und Kriechtieren, die sich in Sicherheit bringen wollten. Das reichte - Gefahr hin oder her! Ächzend rollte ich mich unterm Busch hervor auf den mittlerweile schlammigen Weg. Alles schmerzte.

Angestrengt versuchte ich, durch das Prasseln des Regens irgendwelche Geräusche auszumachen, doch es war nichts zu hören. Anscheinend hatte mich noch niemand entdeckt. Kein Wunder, der Ort des Geschehens lag mehrere hundert Meter entfernt hinter einer Wegbiegung.

An laufen war dennoch nicht zu denken. Langsam rappelte ich mich bis zur Hocke hoch und begann, auf Händen und einem Bein den Weg entlang zu kriechen. Das würde dauern. Regen klatschte in mein Gesicht und tropfte von meinem Kinn. Der Rock war schon komplett durchgeweicht und auch die Jacke würde in diesem Guss nicht mehr lange halten. Ich schlotterte vor Kälte und zitterte vor Schmerz und Anstrengung. Und vor Angst. Angst um Floh und Papa. Angst um Adam, Svenja, Noah und Herrn Pfaff. Angst um Luca. Und auch vor Angst um mich selbst. Womit hatte ich solches Leid verdient? Womit hatten wir alle solches Leid verdient? Langsam bildeten sich erste Tränen in meinen Augen und vermischten sich mit dem Regenwasser auf meinen Wangen. Meine Sicht verschwamm, doch ich hörte nicht auf, weiter zu kriechen. Steine piksten in meine Hände und rissen den Stoff des Rocks an meinem rechten Knie auf. Das linke Bein schleifte nutzlos und schmerzend hinter mir her; der Verband bereits nass und schlammig. Wieso hatten Louis, Martin und Dirk ihr Leben lassen müssen? Nur weil diese Typen entschieden hatten, dass sie nutzlos wären? Eine Gefahr darstellten? Wie konnte es sein, dass aus den Überlebenden so schnell Anarchisten geworden waren? Gab es nicht noch irgendwo Militär, das alles hätte regeln müssen? Lebten alle nur noch für ihr eigenes Wohl? Zählte das Leben von manchen plötzlich mehr als das von anderen? Heulend, verängstigt und frierend kroch ich über den Boden. Was würde aus mir werden? Würden diese Kerle mich einfangen? Oder direkt erschießen? Oder waren die längst weg? Was würde aus Adam und Svenja? Sie waren schließlich auf mich angewiesen und waren schon viel zu lange nicht mehr gefüttert worden. Würden sie verhungern? Würde ich womöglich selbst verhungern, hier im Wald? Voll Panik rutschte ich über den Boden. So viel Ungewissheit. Und ein wirkliches Ziel hatte ich auch nicht vor Augen. Klar, Floh und Papa finden, dann Herrn Pfaff und Noah hinterher, in der Hoffnung, dass die zwei Luca gefunden hatten. Aber danach? Was dann? Zurück ins Krankenhaus? Versuchen, so weiterzumachen wie vor dem Angriff? Oder würden wir uns unauffällig im Wald verstecken? Würde Floh sich doch noch von mir trennen? So viele Fragen. Aber die entscheidendste war: Würde ich es überhaupt schaffen, den Ort des Geschehens zu erreichen? Als ich zurückblickte, musste ich entsetzt feststellen, dass ich gerade einmal gut fünfzig Meter geschafft hatte. Verdammt. Schon jetzt war ich sowohl kurz vor dem körperlichen, als auch dem nervlichen Zusammenbuch. Wie sollte ich das alles jemals bewältigen? Das war zu viel! Viel zu viel! Ich ließ mich einfach fallen. Schlamm klatschte mir ins Gesicht. Schlotternd rollte ich mich zu einer Kugel zusammen und weinte. Ich wollte zu meiner Mutter. Wie ein kleines Kind. Sie hätte gewusst, was zu tun wäre. Hätte mich tadelnd angeblickt, mich aus dem Matsch gezogen und sauber gemacht. Hätte mir mit mütterlichem Wohlwollen ein Unterhemd aufgezwungen und dafür gesorgt, dass ich nicht mehr klatschnass war. Mich dann zu Floh gebracht und dabei die ganze Zeit ermahnt, bloß vorsichtig zu sein. Mama... Wieso hatte sie sterben müssen? Wieso?

Never Feel SafeWhere stories live. Discover now