Überlegungen

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Harry

Als Grace mich Sonntagmorgen angerufen hatte, saß ich gerade bei meiner Mutter im Garten. Robin und sie hatten mich zum Frühstück eingeladen und da ich sowieso in der Nähe gewesen war, ließ ich mich dort nach langem wieder einmal blicken und machte meiner Mutter somit eine riesen Freude. Ich besuchte sie nicht sehr oft und seit meine Schwester von zu Hause ausgezogen war, wurde die Anzahl meiner wenigen Besuche im Jahr noch kleiner.

Meiner Mutter und Robin gegenüber tat es mir leid, dass ich mich hier so selten blicken ließ, aber ich verbrachte meine Zeit nun mal einfach lieber mit meiner Freundin zusammen. Auch wenn unsere Beziehung im Moment nicht so war, wie ich es gerne hätte.

Seitdem wir unsere Tochter verloren hatten, hatte sich in unserer Beziehung so einiges geändert. Grace und ich gingen nicht mehr so locker und leidenschaftlich miteinander um, wie wir es vor einigen Monaten noch getan hatten. Aus Graces liebevollem Lächeln, war ein ernster und trauriger Gesichtsausdruck geworden.

Ich sah sie kaum noch lächeln und das brach mir das Herz. Sie so traurig zu sehen, war schrecklich für mich, vor allem weil ich ihr nicht helfen konnte. Ich gab mir zwar Mühe dabei, sie aufzuheitern und ihr dabei zu helfen, Stück für Stück zu vergessen und langsam wieder glücklich zu werden, aber das wollte sie nicht. Stattdessen stieß Grace mich von sich. Immer und immer wieder. Aber deswegen war ich nicht sauer oder wütend, nur ein bisschen enttäuscht, doch das versuchte ich zu verdrängen. Ich wollte nicht dass sie das mitbekam. Sie würde sich nur noch mehr Schuldgefühle machen, als sie es ohnehin schon tat und außerdem glaubte ich fest daran, dass Grace gar nicht bemerkte, was sie mir da antat.

Das meinte auch Liam. Er war der einzige, dem ich mich anvertraute, denn bei ihm hatte ich einfach das Gefühl, dass er mir zuhörte und mir weise Ratschläge gab, wenn ich welche brauchte. Seit meinem Aufenthalt in London, hatte ich ihn einige Male getroffen und mit ihm gesprochen. Es hatte unheimlich gut getan ihm mein Leid zu klagen und mich von ihm etwas ermutigen zu lassen, weshalb ich nun auch schon etwas früher als geplant am Flughafen saß und auf meinen Flieger wartete, der mich zu Grace brachte. Ich hielt mein Handy in der Hand, trank aus meinem Pappbecher mit Kaffee und während die Wartehalle langsam immer leerer wurde, dachte ich über das Telefonat mit meiner Freundin nach.

Ich war mehr als überrascht gewesen, als ich ihren Namen auf dem Display meines Handys erkannt hatte. Mir war es so vorgekommen, als wäre mein Herz dabei für einen Augenblick lang stehen geblieben, nur um dann, einige Sekunden später noch viel schneller in meiner Brust zu schlagen als zuvor. Meine Hände hatten unheimlich gezittert und es hatte etwas gedauert, bis ich es geschafft hatte, den Anruf anzunehmen.

Das kurze Telefonat mit ihr hatte mir unheimlich gut getan. Nicht nur weil ich sie vermisste, sondern weil es mir auch Hoffnung gab. Eine Hoffnung, die zum Ende unseres Gespräches auch noch gesteigert wurde, denn sie hatte gesagt, dass sie etwas ändern möchte und deshalb war ich nun auch auf dem Weg zu ihr nach Hause. Wir hatten zwar ausgemacht, dass ich am Wochenende bei ihr vorbeikommen würde, doch nun war es erst Donnerstagvormittag und ich hoffte, dass ich sie so etwas überraschen konnte und sie sich auch darüber freuen würde.

Gähnend ließ ich meinen Blick durch die große Wartehalle wandern. Ich war noch nicht ganz fit, denn kaum das ich heute Morgen aufgestanden war, saß ich schon vor meinem Laptop und buchte mir einen Flug. Die halbe Nacht lang, hatte ich wach in meinem Bett gelegen und über Grace nachgedacht. Sie wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen und meine Versuche, mich etwas abzulenken und endlich in den Schlaf zu finden, waren kläglich gescheitert.

Mein Flug wurde aufgerufen und müde erhob ich mich. Ich schnappte mir den kleinen Rucksack und warf den leeren Pappbecher in den Mülleimer und kurz darauf ließ ich mich auch schon auf dem gemütlichen Sitz nieder. Ein leises Seufzen entwich mir und ich stopfte mir ein Kissen in den Nacken um es mir so noch etwas gemütlicher zu machen. Mein Flug war zwar nicht sehr lange, doch vielleicht hatte jetzt die Möglichkeit ein bisschen Schlaf nachzuholen. Immerhin wollte ich nicht völlig übermüdet bei Grace auftauchen.

Imperfect PerfectionWhere stories live. Discover now