Das Geheimnis der Peitschenden Weide

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Oktober 1975

Gwendolyn saß auf den Stufen einer steinernen Treppe und sah aus dem hohen Fenster, während sie zusammen mit den anderen Schülern auf Professor Flitwick wartete. Severus stand einige Meter vor ihr an die Wand gelehnt und unterhielt sich gedämpft mit Evan. Gwen sah hinunter zum See, dessen schwarze Oberfläche vom tobenden Wind aufgepeitscht wurde. Der darin lebende Riesenkrake hatte sich längst in die Tiefen zurückgezogen, denn die schweren dunklen Wolken kündeten das kommende Unwetter an. Der tosende Sturm riss bereits die Blätter von den Bäumen des Verbotenen Waldes und ließ sie weit in den Himmel tanzen. Die Wipfel der höchsten Bäume bogen sich gefährlich durch diese ungestüme Kraft.

Doch ein einziger Baum auf dem Hogwartsgelände widersetzte sich dieser Naturgewalt: Nur die dünnsten Äste der Peitschenden Weide wiegten sich im Wind, als sei dieser eine zarte Frühlingsbrise. Fasziniert blieb Gwendolyns Blick an ihr hängen.

Dieser Baum war mittlerweile so gigantisch, dass er es mit seiner Pracht gut mit einer uralten Eiche aufnehmen konnte. Dabei war sie erst wenige Jahre alt.

Gwen erinnerte sich noch gut daran, wie dieses Ungetüm einige Wochen vor ihrer Einschulung gepflanzt wurde und welch mickriges Pflänzchen sie damals war.

Professor Beery war natürlich total aus dem Häuschen gewesen und hatte die Weide jeden Tag besucht, um sie mit einem von Professor Slughorn gebrauten Elixier zu gießen. Dieses Gebräu war auch die einzige Erklärung dafür, wie es dieser Baum in wenigen Wochen auf stattliche drei Meter mit armdicken Ästen geschafft hatte. Heute war er schon haushoch.

Fasziniert von diesem unnatürlichen Schauspiel bemerkte Gwendolyn zunächst gar nicht, dass die Schüler bereits den Klassensaal betraten. Erst als Severus zurückkam, den Kopf aus der Tür streckte und nach ihr rief, erwachte sie aus ihrem Tagtraum.

Nach einer langweiligen Stunde bei Flitwick, in der sie nur die theoretische Ausführung einer komplizierten Zauberformel geübt hatten, kam Severus zu ihr.

»Kennst du diese Handschrift?« Er hielt ihr ein ordentlich gefaltetes Stück Pergament hin.

Gwendolyn ergriff es und schaute auf die ultramarinblauen Lettern. Es war eine hübsche, geschwungene Schrift, die vermuten ließ, dass sie aus der Feder eines Mädchens stammte.


Komm heute kurz vor Mitternacht zur Peitschenden Weide.


Gwendolyn runzelte misstrauisch die Stirn und fragte: »Von wem hast du sie, Sev?«

Er zuckte mit den Achseln und antwortete: »Sie war verzaubert, kam während der Stunde zu mir geflogen. Ich weiß nicht genau von wem.«

»Werf sie fort!«, forderte Gwen ihn barsch auf.

Severus grunzte und blickte erneut auf den kleinen Brief dieses Mal verärgert.

»Was, wenn er von Lily ist?«

»Ist das ihre Schrift?«

»Nein«, antwortete er betreten.

»Na also.« Gwendolyn reichte Severus den Zettel, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, und wiederholte sich dann: »Wirf ihn weg!«

»Vielleicht hat ihn Alice für sie geschrieben!«, protestierte er.

Mit einem Schnauben ließ Gwen ihren Freund im Zauberkunstkorridor stehen und machte sich auf den Weg zu Arithmantik.

Als Gwendolyn an diesem Abend den Gemeinschaftsraum betrat, war sie hundemüde und wünschte sich nichts sehnlicher, als die großen schweren Vorhänge ihres Bettes um sich herum zu zuziehen. Nicht nur der lange Schultag hatte sie angestrengt, sondern auch die heutige Arithmantik AG, die sie seit Beginn des Schuljahres leitete. Sie konnte es einfach nicht nachvollziehen, wie viele Schüler dieses Fach belegten, die nicht einmal ein geringes Verständnis für das Spiel mit Zahlen hatten. Verständnislos den Kopf schüttelnd, öffnete sie die Tür des Mädchenschlafsaals, warf jedoch einen flüchtigen Blick über die Schulter. Severus schien noch immer beim Abendessen zu sein. Ohne weiter nachzudenken, schritt sie durch die Tür, ließ ihre Tasche neben dem Bett auf den Boden fallen und schmiss sich auf die slytheringrüne Tagesdecke. In dem Moment, als sie die Augen schloss, genoss sie die Stille und überlegte, welche Hausaufgaben sie heute noch zu erledigen hatte. Doch sie kam nicht mehr dazu sie zu verrichten, denn binnen Minuten war Gwen eingeschlafen.

Im Schatten eines großen NamensWo Geschichten leben. Entdecke jetzt