19 - Mauer

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Die Aussicht bei Sonnenlicht von der Terrasse der ersten Etage ist noch besser als die von gestern Abend. Das Mittagessen bestand aus Reispfanne und als ich es beendet habe, verzog ich mich sofort nach draußen. Ich lehne über dem Geländer und blicke auf die Pflastersteine unter mir. Den Sprung würde ich wahrscheinlich überstehen. Aber wohin dann? Die hohen Mauern sind mit Stromzäunen überbaut, die nicht zur Ästhetik der restlichen Architektur passen. Als hätte jemand eine Strafvollzugsanstalt als luxuriöses Airbnb verkleidet. Helle Außenfarben, Dachziegel aus Terrakotta, runde Steintreppen, schmale Säulen, opulente Dreiecksgiebel und ... ein gepflegter Garten mit Rundbögen.

Ein Gemüsegarten? Sind die Wespen Selbstversorger?! Durch die abschreckende Mauer hindurch führt ein Tor zum Garten. Natürlich ist das Tor zu. Aber hinten im Garten sind die Mauern niedriger und ohne zusätzlichen Stromzaun ... Und dahinter der Dschungel.

"Vergiss es." Ich zucke zusammen, bevor ich mich umdrehe. Paco hat sich eine Zigarette angezündet und lehnt sich nun neben mir übers Geländer.

"Was soll ich vergessen?"

Ein müdes Lächeln. "Was wohl ..." Er verfolgt meinen Blick gen Fluchtmöglichkeit und seufzt leise. "Sicherheitsmauer mit integriertem Stromzaun. Der Hochspannungsgenerator arbeitet pulsierend. Die Hochspannungsspitzen werden mit einer Frequenz von 50 Impulsen pro Minute erzeugt. Elektrodraht. Ein paar tausend Volt, die durch so einen Körper jagen."

Ich überlege kurz. "Tödlich?"

Er zuckt mit den Schultern. "Hab ich noch nicht ausprobiert." Ein missmutiger Blick in meine Richtung. "Würde ich auch nicht an deiner Stelle."

"Fuck.", denke ich, bevor ich realisiere, dass ich es aus Versehen laut ausgesprochen habe.

"Keine Sorge, man kriegt nichts von dem Strom ab. Nicht, wenn man sich von der Mauer fern hält."

"Ach was ...", murmele ich grimmig.

Er stößt Qualm aus. "Und hast du Medina schon gefragt?"

Unwillkürlich zucke ich zusammen und wage einen kurzen Blick in das blasse Gesicht. "Ähm, wegen der Syntax? Also ..."

Paco schüttelt mit dem Kopf. "Es gibt keinen Grund, sich dumm zu stellen." Ich muss schlucken und knirsche mit den Zähnen.

"Das heißt dann wohl ja." Er nimmt noch einen Zug von seiner Zigarette und betrachtet mich ein wenig mitleidig. "In unserer Branche nimmt man's nicht so genau mit Menschenrechten und so nem Zeug. Außerdem hätte es dir sowieso nichts gebracht, selbst wenn Medina die Behörden verständigt hätte. Tut mir leid."

Bis auf den letzten Satz glaube ich ihm sogar. "Bloß kein falsches Mitleid."

Seine Miene ist düster. Dieses Detail lässt mich in ihm das bizarre Gegenstück zu Reyes erkennen ... Paco mit blasser Haut und braunen Augen. Reyes mit brauner Haut und blassen Augen. Reyes' Gesicht ist stets völlig entspannt, Pacos stets angespannt.

"Das mit der Ertränkung tut mir auch leid. War nichts Persönliches." Diesmal kann ich mir das wütende Schnauben nicht verkneifen. Warum zur Hölle denkt irgendwer, dass ich eine Entschuldigung hören will?! Das Einzige, Einzige, was ich will, ist, diesen Ort lebendig zu verlassen und niemals wiedersehen zu müssen! Mein nächster Gedanke schießt mir über die Lippen, noch bevor ich mich besinnen kann. "Was erhofft sich Reyes von diesen Briefen?"

Augenblicklich bereue ich, gefragt zu haben. Aber noch viel mehr bereue ich, eine Antwort zu bekommen. "Informationen." Ich will keine Mitwisserin sein und will, dass er aufhört zu reden, aber er tut mir den Gefallen nicht. "Franco arbeitet an etwas Geheimen und der Verräter Duarte unterstützt ihn dabei. Reyes will unbedingt herausfinden, was diese Sache ist." Paco versenkt seine Zigarette im Aschenbecher und wendet sich zum Gehen. "Und um ihm dabei zu helfen, sollten wir nun wieder an die Arbeit. Je eher wir fertig werden, desto besser."

"Bewundernswerte Arbeitsmoral." Die hätte ich auch gerne.

"Danke.", murmelt er und ich bleibe allein zurück. Verharre noch ein paar Sekunden über dem Geländer gebeugt. Mit der Rekonstruktion Duartes gesendeter Briefe werde ich heute niemals fertig. Aber in einer Woche ganz sicher. Die Mauer blickt mir bedrohlich entgegen. Der ferne Dschungel lächelt mir zu.

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Immer her mit Meinungen, Vermutungen, Feedback und Votes!! Und immer schön gespannt bleiben ;)

Deadly People  ✓Where stories live. Discover now