2 - Briefe

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Ist mir denn kein Moment der Ruhe vergönnt? Werde ich gleich wieder angeschnauzt, weil ich den scheiß Champagner für eine Sekunde allein gelassen hab? Mir bleibt nicht mal Zeit, mich für eine Kündigungsandrohung zu wappnen, da funkeln mir Valerias braune Augen entgegen. Ihr extravaganter Lidstrich macht dieses Funkeln zu einem Spektakel.

"Was erlaubst du dir, Ally? Nicht bei der Arbeit? Sollen sich die Gäste jetzt selbst bedienen oder was?!"

Ich verdrehe die Augen und lege mein Handy beiseite. "Sei nicht so laut und mach die scheiß Tür zu, Leri!" Das tut sie auch, aber nicht ohne vorher noch einmal einen Blick hinter sich in den Flur zu werfen.

"Keine Sorge, die Luft ist rein." Das freche Lächeln steht ihr verdammt gut. Fast so gut wie unsere Uniform. Der modische schwarze Kellnerinnen-Zweiteiler steht ihr dank ihrer Kurven viel besser als mir.

"Na, wie findest du die Leute?"

"Das reinste Wespennest ..."

"Naja, wenigstens hält das den Nervenkitzel am Leben und wir sterben nicht an Langeweile."

Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. "Dafür sterben wir noch an was ganz anderem. Ist dir nicht aufgefallen, wen Duarte eingeladen hat?"

Valeria zuckt mit den Schultern und zündet sich eine Zigarette an. "Wen?"

Ich halte für ein paar Sekunden die Luft an, bevor ich den Tratsch preisgebe. "Franco."

Sie hustet Rauch aus. "Nicht dein Ernst?!"

"Mein voller Ernst. Erst begrüßt er seine Verbündeten aus dem Syndikat, dann macht er sich an deren Erzfeind ran."

Valeria missbraucht das Waschbecken als Aschenbecher, bevor sie sich nachdenklich zu mir umdreht. "Er ist so gut wie tot."

"Also mir kann's recht sein.", meine ich trocken und widme mich wieder Kims Nachricht. Die Decodierung ...

"Zeig mal, Ally!", murmelt meine neugierige Freundin, während sie sich mein Handy angelt.

"Eh, lass das, gib's wieder!"

Sie ignoriert meine Protestrufe und stöhnt theatralisch auf. "Duartes Briefe? Immer noch diese Sache? Ernsthaft?"

Ja, ernsthaft. Es waren die Langeweile und der Trotz gewesen, die mich zu dieser Dummheit getrieben haben, als ich noch als Duartes persönliche Assistentin gearbeitet habe. In seinem Papierkram fand ich den ersten. Einen verschlüsselten Brief. Geheimniskrämerei ist keine Besonderheit in Duartes Kreisen. Schließlich gibt es da einiges, das er geheim zu halten hat. Und ich hatte Lust, aufmüpfig und detektivtisch gegen sein Hotel zu agieren. Also analysierte ich seinen verschlüsselten Brief und konnte ein paar der Hieroglyphen übersetzen, mehr schlecht als recht.

Valeria schnaubt missbilligend. "Deine Herumschnüfflerei war genau der Grund, warum du degradiert wurdest. Von der persönlichen Assistentin zu Kellnerin."

Jetzt bin ich diejenige, die abfällig schnaubt. "Nope, das war nicht der Grund. Davon wusste er schließlich nie etwas. Ich wurde degradiert, weil ich nicht auf seine Anmachversuche reagiert hab."

Als Kim seine neue Assistentin wurde, erzählte ich ihr von den Briefen. Es hat sich gut angefühlt, mich auf diese Weise für seine Ekelhaftigkeit zu rächen. Kim hat mitgemacht und schickt mir seitdem Updates, wenn ein neuer Brief aufgetaucht ist oder sie glaubt, ein neues Symbol übersetzen zu können. Gut gegen die Langeweile. Gutes Gefühl, Duarte ans Bein zu pissen. Die Gefahr darin, der Nervenkitzel, ist nur ein weiterer positiver Nebeneffekt. Valeria findet die Sache bescheuert, würde uns aber niemals anschwärzen, allein schon aus Prinzip. Niemand vom Personal kann den Hotelbesitzer leiden, vor allem nicht, seitdem die Welt von seiner Verbindung zum Syndikat weiß.

Ich ignoriere Valerias missmutige Kommentare zu meinem unrentablen Side Hustle und antworte Kim auf ihre Analyse. »Tolle Fortschritte, schon in drei Monaten haben wir die Hälfte aller Vokale zusammen ;)«

Valeria spült die Reste der Asche im Waschbecken hinunter und öffnet das Fenster. "Wir sollten wieder los. Bevor noch jemand merkt, dass wir fehlen."

"Hast recht." Ich stecke mein Handy wieder ein und folge der blonden Schönheit nach draußen, zurück in den Flur, vorbei an der Küche, wo wir uns mit neuen Tabletts voller Champagner bewaffnen.

Im Saal angekommen, nehme ich wieder Haltung an und konzentriere mich darauf, nicht einzuschlafen. Ich bin verdammt erschöpft. Meine Schicht scheint kein Ende zu nehmen und ich habe das Gefühl, als würde ich mir schon seit Tagen die Beine in den Bauch stehen. Vielleicht bin ich einfach nicht gemacht für diesen Job. Vielleicht ist es das Wespennest, das mich nervös macht. Oder vielleicht habe ich einfach nur eine große Portion Schlaf aufzuholen. Valeria stupst mich an.

"Ally", flüstert sie mir von der Seite zu.

"Ja, ich bin wach.", murmele ich nur, was sie dazu provoziert, mich erneut anzuzischen. "Allison! Schau mal zum Eingang!" Ich versuche, ihrem Blick zu folgen und fokussiere eine Gruppe zwielichtiger Gestalten, die gerade den Saal betreten hat. Wieder erkenne ich sie an den Tattoos und der Art, wie die anderen ausweichen. Mitglieder des Syndikats. Mein Körper kann es sich nicht verkneifen, mir einen kalten Schauer zu bereiten. Ich mustere die Anzugträger. Der Dunkelhaarige mit der Narbe am Hals sticht heraus. Offensichtlich der Anführer. Eiskalt und seelenruhig zugleich betrachtet er das vor ihm liegende Terrain und seine grauen Augen scheinen nicht nur alles wahrzunehmen, sondern auch bestimmte Signale an die Umstehenden auszusenden.

"Das Syndikat", murmele ich und sie nickt ein wenig angespannt.

"Der Typ mit der Narbe. Scheiße nochmal ... Weißt du, wer das ist?" Ich kneife die Augen noch ein wenig fester zusammen und fasse es kaum, Valeria grinsen zu sehen.

"Ich glaube, sein Gesicht kommt mir bekannt vor ..." Sie unterbricht mich.

"Reyes." Ich starre sie entgeistert an.

"Okay ...", sage ich gedehnt. "Aber ... nicht echt jetzt, oder?"

"Vollkommen echt. Live und in Farbe."

Live und in Farbe und nur wenige Meter entfernt von uns steht Nathanael Reyes, offiziell erfolgreicher Geschäftsführer, inoffiziell hohes Tier der regional berüchtigsten Verbrecherorganisation. Ich registriere Duarte, der Reyes nun auch bemerkt hat und einmal fest schlucken muss. Der unheilbringende Blickkontakt zwischen beiden Wespen bereitet mir beinahe die nächste Gänsehaut.

"Angeblich herrscht er über die bestversteckteste Basis des Syndikats, irgendwo in den Tiefen des Dschungels.", flüstert Valeria mir zu und öffnet die beiden obersten Knöpfe ihrer Bluse. "Sitzt mein Lippenstift?"

Ich ziehe meine Brauen nach oben und starre sie an. "Was hast du vor?"

Sie zuckt mit den Schultern. "Meine Chance nutzen." Sie ignoriert meinen ungläubigen Blick und fährt fort. "Er ist der mächtigste Mann der Stadt. Ich lasse mir nicht die Chance entgehen, ihn mal von Nahem zu sehen. Vielleicht zu begegnen. Vielleicht ein Wortwechsel. Man weiß nie, was sich so ergeben kann. Aber eins weiß ich: Einer wie er könnte dir alles besorgen, was du willst."

"Oh mein Gott ...", murmele ich genervt, was Valeria zum Lächeln bringt.

"Halt die Klappe und wünsch mir Glück!"

"Viel Glück beim Nicht-Sterben während dem Flirt mit einem wahrscheinlich Serienkiller."

"Danke, Spatz."

Das Letzte, was ich von ihr sehe, ist der blonde Schopf, der sich einen Weg durch die Menge bahnt. Ich schüttle leicht mit dem Kopf, um meine düsteren Gedanken zu vertreiben und rufe mich wieder zur Ordnung. Okay, entspannt bleiben. Konzentriert bleiben. Es gibt noch genügend Gläser auszuteilen und genügend Blicke, die meine unproduktive Starre bemerken könnten. Das Pärchen da vorn hat gerade ausgetrunken. Also los! Ich wechsele meine verkniffe Miene gegen die professionelle Andeutung eines Lächelns aus und bewege mich, das Tablett balancierend, vorbei an ein paar der gefährlichsten Menschen der Stadt.

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Immer her mit Meinungen, Vermutungen, Feedback und Votes!! Und immer schön gespannt bleiben ;)

Deadly People  ✓Where stories live. Discover now