Kapitel 74

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Endlich ist es soweit. Ich darf Harry besuchen. Laut Anne geht es ihm wohl ganz gut, abgesehen von Müdigkeit und leichten Schmerzen.

Es klopft an meiner Tür. Es ist Niall. Ich habe ihn gefragt, ob er mir ein paar Klamotten bringen kann. Wir begrüßen uns per Handschlag. "Na wie geht's dir?", fragt er. Ich zucke mit den Schultern. "Eigentlich gut. Die Naht zieht zwischendurch nur ein wenig, wenn ich mich falsch bewege, aber ansonsten merke ich nichts mehr". - "Das ist gut. Fühlst du dich denn jetzt leichter?", fragt Niall allen Ernstes und blickt mich neugierig an. Ich klatsche mir die Hand vor die Stirn. "Das hast du jetzt nicht gefragt, oder?"

Niall schnaubt belustigt. "Naja, du bist bestimmt einige Gramm los. Ich weiss ja nicht, wie viel eine Niere so wiegt, aber das hat mich schon immer mal interessiert, ob es sich anders anfühlt". - "Oh man Niall. Nein, tut es nicht".

Er reicht mir frische Klamotten und hilft mir dann, das Shirt anzuziehen, damit ich nicht an dem großen Pflaster hängen bleibe. Als ich fertig bin, mache ich mich im Bad noch frisch. "Können wir?", fragt Niall und steht bereits an der Tür. Ich nicke und atme noch mal tief durch. Ich weiss gar nicht, wieso, aber ich bin so nervös.

Wir stehen vor Harrys Zimmertür und klopfen leise an. "Ja?", höre ich seine Stimme. Er klingt ein wenig schwach und müde, aber trotzdem erwartungsvoll. Mein Herz springt mir gleich aus der Brust.

Ich öffne die Zimmertür und wir treten ein. Zuerst war Harrys Blick etwas verwirrt, da er zuerst Niall gesehen hat, doch sobald er mich sieht, fängt er augenblicklich an zu strahlen. "Louis!", ruft er und möchte sich aufsetzen. - "Warte", sage ich und stelle sein Kopfteil etwas höher, sodass er mehr oder weniger sitzen kann. "Ich habe mich schon den ganzen Tag gefragt, wann du denn endlich kommst oder ob du mich vergessen hast", sagt er.

Ich mustere ihn einen Augenblick. Seine Augen haben nicht den gewohnten Glanz und seine sonst so schönen Locken liegen regelrecht platt auf seinem Kopf. Auch scheint er noch ein wenig blass zu sein. Doch trotz allem hat sich meine Meinung nicht geändert: Ich habe den schönsten Freund auf Erden.

"Nein, als würde ich dich vergessen. Mir kam nur noch etwas dazwischen. Aber jetzt erzähl mal, wie geht es dir?", frage ich und setze mich neben ihm auf das Bett. Kurz muss ich die Luft anhalten, da ich mich zu schnell bewegt habe und die Naht gerade extrem sticht. Ich hoffe, Harry hat nichts bemerkt. Niall sitzt auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Betts. "Eigentlich ganz gut. Die Ärzte meinten, ich hatte wohl wirklich viel Glück. Ich habe einiges an Blut verloren und habe eine neue Niere eingesetzt bekommen, aber das wisst ihr ja bestimmt schon alles", erklärt er. Sein Blick wandert kurz suchend über die Bettdecke, doch dann hellt sich seine Miene auf und er greift nach meiner Hand. Er schiebt seine Finger zwischen meine und drückt einen Kuss auf meinen Handrücken. Seine Lippen fühlen sich ganz kalt und ungewöhnlich trocken an, was vermutlich am ganzen Blutverlust liegt.

"Wie ist das denn eigentlich passiert? Ich wollte neulich zu dir und auf einmal bist du vor meinen Augen zusammengebrochen. Du hattest eine riesen Wunde am Bauch. Bist du gestürzt und dadurch hat sich die Naht wieder aufgerissen?", frage ich. Harry blickt einen Moment überlegend an die Zimmerdecke. Er hat die Augenbrauen zusammen gezogen und die Stirn gerunzelt. "Ich... ich weiß es nicht. Die Ärzte haben mich das auch schon gefragt, aber der ganze Montag ist komplett weg. Vielleicht bin ich wirklich gestürzt", erklärt Harry und beißt sich unsicher auf die Unterlippe. Prompt streiche ich mit meinem Daumen wieder darüber und löse sie aus seinen Zähnen.

Plötzlich meldet sich Niall zu Wort, der bis gerade eben still neben uns saß. "Aber wie kann das sein, dass du dich an nichts erinnern kannst?", hakt er verwirrt nach. Harry zuckt mit den Schultern. "Dr. Carter meint, ich bin vielleicht blöd auf dem Kopf gelandet oder aber ich habe einen Art Gedächtnisschwund, eben weil ich so viel Blut verloren habe", meint Harry. Niall macht ein verstehendes Geräusch, doch so ganz von diesen Theorien überzeugt ist er wohl nicht. Klar, er studiert schließlich auch Medizin. Vielleicht ist man da generell anderen Diagnosen gegenüber eher skeptisch.

"Naja, genug zu mir. Was habt ihr denn dann gestern und heute so gemacht?", fragt Harry. Ich schaue unauffällig, aber dennoch hilfesuchend zu Niall. Er versteht meinen Blick zum Glück. "Nicht viel. Uni eben. Die Vorlesungen sind langweilig wie immer. Wir vermissen dich in den Mittagspausen. Es ist richtig langweilig, ohne deine Beschwerden über das angeblich nicht angemessen angerichtete Essen", sagt Niall grinsend. Harry grinst und unterdrückt sich wohl das Lachen. Die Ärzte haben uns beiden verboten, die Bauchmuskulatur zu sehr zu beanspruchen und auch wenn es blöd klingt- da gehört Lachen eben auch mit dazu. "Bald habt ihr mich ja wieder", verspricht Harry.

"Wisst ihr, was ich mich schon die ganze Zeit frage?", meint er auf einmal, nachdem wir alle unseren Gedanken einen Moment nachhingen. "Nein, was denn?", frage ich neugierig.

"Es klingt doof, aber irgendwie wüsste ich gerne, wer mir die Niere gespendet hat", schießt er plötzlich heraus. Erschrocken reiße ich die Augen auf und meine freie Hand krallt sich in mein Bein. Auch Niall bekommt auf einmal rote Ohren vor Nervosität. "Ähm... wie... wie kommst du denn darauf?", bringt er stotternd hervor. Mir dagegen hat es endgültig die Sprache verschlagen. - "Ich weiß nicht, aber mich würde es interessieren, wie die Person so war. Ob sie ein Draufgänger war und alles getan hat, was ihr in den Sinn kam. Oder ob die Person eher unauffällig durchs Leben ging und immer nach dem Kopf statt nach dem Herzen gehandelt hat. Immerhin wurde mir das Leben durch ein Organ dieses Menschen gerettet. Oder wie alt sie war und wie die Person gestorben ist", zählt er auf.

"W-wieso denn gestorben? Es gibt doch auch Lebendnierenspenden", wirft Niall ein, als er sich wieder gefangen hat. Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu. "Stimmt, das kann natürlich auch sein. Wenn es so wäre, meint ihr, ich kenne die Person sogar?", fragt Harry. Er hat einen merkwürdigen Tonfall drauf. Ich weiß nicht, was es ist, doch irgendetwas daran passt mit nicht. Er klingt so... negativ.

Ich kann gerade nicht mehr klar denken. "Was würdest du denn tun, wenn es so wäre?", frage ich vorsichtig. Harry schnaubt einmal. "Ich wäre sauer auf die Person", sagt er dann grinsend. Ich blinzle ein paar mal. "W-wieso denn sauer??" Auch Niall sieht nun mehr als verwirrt aus und hat seine zuvor gammlige Sitzposition in eine aufrechte verändert. "Naja, es ist so: die Person hat nun eine Niere weniger. Mir ist klar, dass vor einer Organspende immer geprüft wird, ob die Person sich dafür eignet, aber... sind wir mal ehrlich... man kann nicht in die Zukunft voraussehen. Was ist, wenn genau diese Person in zwanzig Jahren auf einmal Nierenkrebs bekommt? Dann stirbt diese Person. Und lässt vielleicht sogar eine Familie mit kleinen Kindern allein zurück. Und das alles nur, weil ich eine scheiß Krankheit habe und eine Niere brauchte. Beziehungsweise weil ich anscheinend zu dumm war, einfach in meinem Bett liegen zu bleiben. Wäre ich nicht aufgestanden, würde meine alte Niere noch einwandfrei funktionieren und der Spender hätte noch seine beiden Nieren".

Weil ich merke, dass Harry mit der Erklärung seiner Sichtweise noch nicht fertig ist, halte ich meinen Mund und versuche, meinen Puls irgendwie zu beruhigen.

"Dagegen, wenn die Person ohnehin schon durch einen Autounfall oder so etwas gestorben ist, habe ich keine Schuldgefühle. Ich kann ja dann nichts dafür. Es klingt jetzt hart, aber... wenn ich die Niere nicht bekommen hätte, dann eben jemand anderes. Es war Zufall, ich habe es mir nicht ausgesucht. Okay, ich hätte nicht aufstehen dürfen, aber dann musste immerhin nicht eine Person umsonst sterben. Wenn ich mir jetzt überlege, dass zum Beispiel meine Oma mir ihre Niere gespendet hat, ich wäre unendlich sauer auf sie. Denn das wäre gegen meinen Willen. Ich möchte lieber sterben, als dass sie stirbt, bloß weil sie mir eine Niere spenden musste. Bei mir ist es nicht so schlimm, ich habe keine Familie. Sie dagegen hat Kinder und Enkelkinder. Ich weiß nicht, ob ich versteht, was ich meine, aber... naja... so ist eben meine Sichtweise".

Ich habe auf einmal das Gefühl, nicht mehr richtig Luft zu bekommen. Meine Lunge, sowie mein Herz werden schmerzhaft zusammengequetscht und lassen keinen Sauerstoff mehr durch. Das kann doch nicht sein Ernst sein?!

"Ich... ich habe ganz vergessen, dass ich noch einen Termin habe. Wir sehen uns morgen. Niall?", ich drücke Harrys Hand noch kurz und verlasse dann mit meinem besten Freund fluchtartig das Zimmer meines festen Freundes. Ohne einen Abschiedskuss und einen letzten Blick. Als ich die Tür schließe, sehe ich nurnoch, wie Harry uns verwirrt und etwas enttäuscht hinterher sieht. Es tut mir leid, Harry.

Als die Tür zu ist, lasse ich mich mit den Rücken zur Wand auf den Boden sinken. "Niall?", frage ich. Er begibt sich mit mir auf eine Höhe. "Mhm?"

"Harry darf niemals erfahren, dass das meine Niere ist".

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Emerald green eyes || Part 1 (Larry Stylinson)Where stories live. Discover now