Mad Whale (Teil 1/3)

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~ Das Bild gehört mir nicht.

„Guten Morgen Gerhard. Und wie geht es dir heute?" Victor Frankenstein schloss die Tür des Zimmers hinter sich ab, nachdem er eingetreten war. Dann wandte er sich um und sah auf seinen jüngeren Bruder hinab, der, immer noch in seiner einst weißen Uniform, am Boden in einer Ecke kauerte. Seit Victors Rückkehr aus dem Zauberwald waren mehrere Tage vergangen und er hatte es mithilfe des ‚magischen' Herzes tatsächlich geschafft, Gerhard wieder zum Leben zu erwecken. Nur, dass es keine so gute Tat gewesen war, wie er es sich erhofft hatte. Gerhard war nicht mehr derselbe, sondern nur noch ein zusammengeflicktes, erbärmliches Wesen dessen sehnlichster Wunsch es war, sich wieder in das Reich der Toten zu begeben. Aber leider konnte Victor dieser ärmlichen Kreatur diesen Wunsch nicht erfüllen. Er brachte es nicht übers Herz und war zu schwach, um die mentale Kraft aufzubringen, die dazu nötig war. Jetzt mussten er und Gerhard eben damit leben. Victor setzte sich auf einen Stuhl, der noch von seinem letzten Besuch am vergangenen Tag zeugte und versuchte es mit einem Lächeln, welches ihm allerdings misslang. „Weißt du mein Bruder, ich habe mir gedacht, ich könnte dir ein bisschen von den Dingen erzählen, die ich auf meiner Reise erlebt habe.", meinte er. Und was für eine Reise das gewesen war! Jetzt, nachdem er all die Dinge gesehen hatte, die im Zauberwald möglich waren, war es für ihn schwierig, seinen Glauben an die Wissenschaft nicht durch Glauben an Magie zu ersetzten. Aber alles musste eine wissenschaftliche Erklärung haben. Gerhard hatte ihm noch immer nicht geantwortet, sondern starrte ihn nur flehend an. Victor wich seinem Blick aus und zog stattdessen ein kleines Büchlein aus seiner Jackentasche. Er hatte versucht, so viele Dinge wie möglich aus dem Zauberwald aufzuzeichnen. Alles was ihm über den Weg gelaufen oder das er irgendwo gesehen hatte, ob nun Tiere oder Pflanzen, hatte einen Platz auf den dünnen Seiten gefunden. Jedes noch so ungewöhnliche Wesen hatte er sich versucht so gut wie möglich einzuprägen und es anschließend auf Papier gebracht. Nur leider hatte er nichts von den unglaublichen Farben mitnehmen können. Das Herz, das nun in Gerhards Brust schlug, hatte seinen wunderschönen, pulsierenden Rotton nicht verloren, aber leider war es als inneres Organ nicht mehr sichtbar. Das war es, was Victor mit am meisten am Zauberwald vermisste: die Farben. Seine Welt war grau und dunkel und es war nichts im Vergleich zu all den unglaublichen Eindrücken, die die Farben im Zauberwald erschaffen hatten. „Hier habe ich sehr viele schöne Dinge aufgezeichnet, die ich gesehen habe. Du willst sie doch bestimmt mal sehen." Er schwenkte sein Zeichenbuch etwas hin und her, um Gerhards Aufmerksamkeit darauf zu richten. Seitdem sein Bruder eine Art Zombie war, war er nicht mehr der hellste und schnell abzulenken. Ob das nun ein positiver Wandel seiner Persönlichkeit war hing von der Situation ab. Victor schlug das Buch auf, sobald Gerhard darauf sah. Dann drehte er die Seiten in seine Richtung. „Hier, schau. Das war das Erste, was ich im Zauberwald gesehen habe." Er zeigte seinem Bruder die verschiedenen Zeichnungen und blätterte Seite für Seite um und konnte zu jedem neuen Bild etwas anderes erzählen. Gerhard schien andächtig zuzuhören. Es sah beinah so aus, als würden ihn die Geschichten beruhigen. Victor beschloss, das öfter zu tun, falls sein Bruder mal wieder einen dieser Anfälle bekam, bei dem er vor Verwirrung durchdrehte. Vielleicht konnte es helfen, ihn zu beruhigen. Victor blättert erneut um und hielt Gerhard die Seiten hin, ohne darauf zu sehen. Aber dieses Mal war die Reaktion darauf anders, als bei den anderen Zeichnungen davor. Gerhard legte fragend den Kopf schief, als wäre das, was auch immer Victor dort gezeichnet hatte ein Rätsel für ihn, etwas, dass er nicht verstand. „Was ist?", fragte er der ältere Frankenstein verwirrt und drehte das Buch wieder zu sich herum. „Oh." Er hatte dieses Bild ganz vergessen. Er sah von seiner Zeichnung auf zu Gerhard und dann wieder zurück. „Willst du wissen, was es damit auf sich hat?" Er hoffte tatsächlich, dass er es nicht wissen wollte. Aber Gerhard nickte und erschien ihm sehr erpicht darauf, die Antwort zu erfahren. Victor seufzte leise, während seine Finger gedankenverloren über das Gesicht aus feinen Bleistiftlinien und einen überdimensional großen Hut auf dem Kopf der Person strichen. Er hatte es sogar geschafft, das süffisante Grinsen seines Begleiters einzufangen, dass dieser so oft an den Tag gelegt hatte. „Das", begann er langsam, „ist Jefferson. Ein Hutmacher und Portalspringer – wenn man seinen Worten denn Glauben schenken darf." Gerhard war interessiert ein bisschen näher an ihn herangerutscht. Wieso war es seinem Bruder so wichtig, etwas über seinen Wegbegleiter zu erfahren? Obwohl, vielleicht lag es einfach nur in seinem Interesse, warum Victor ihn gezeichnet hatte. Die Antwort darauf war einfach: Jefferson fehlte ihm. Trotz seiner arroganten, selbstsicheren und absolut sorgenfreien Art war er ihm ans Herz gewachsen. Auch wenn es hieß, dass der Zauberwaldbewohner ein bisschen verrückt, ja sogar wahnsinnig war, hatte Victor Sympathien für ihn entwickelt. Vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als das, aber das brauchte Gerhard nun wirklich nicht zu wissen. „Jedenfalls hat er mich überhaupt in den Zauberwald gebracht. Nachdem dieser Rumpelstilzchen hier auftauchte, um mir seine Hilfe anzubieten hat er mir Jefferson vorbeigeschickt. Mit seinem Hut", dabei drehte er das Buch wieder zu Gerhard um, damit er auf die Kopfbedeckung zeigen konnte, „sind wir dahin gekommen. Noch, und ich betone noch, kann ich mir noch nicht ganz erklären, wie genau es funktioniert. Aber es ist keine Magie!" Gerhard schwieg und sah weiterhin interessiert drein. Victor war sich sicher, dass es das längste Mal war, dass er die volle Aufmerksamkeit seines Bruders auf sich liegen hatte. „Jedenfalls muss man den Hut so drehen und dann entsteht violetter Rauch, der rotiert. Und dann muss man dort hineinspringen, dann gelangt man in einen Raum mit vielen Türen.", er erklärte Gerhard, was Jefferson ihm damals erklärt hatte. Das der Raum eine Art Zwischenstation zwischen den verschiedenen Welten war und jede Tür in eine andere Welt führte. Und dann waren sie kurz darauf im Zauberwald angekommen. Victor erklärte, wie er an das magische Herz gekommen und dabei Rumpelstilzchen geholfen hatte, die Seele einer jungen Königin namens Regina dunkel zu färben. „Dieses Land ist sowieso etwas merkwürdig. Sie glauben da an wahre Liebe und so etwas, und natürlich an die Größte Lüge: die Magie." Victor schnaubte leicht. „Und an Happy Ends." Ja, so etwas sollte es wohl im Zauberwald geben. Happy Ends und Liebe auf dem ersten Blick. Es waren lächerliche Dinge, an die die Menschen, oder besser die Wesen in dieser ‚anderen Welt' glaubten. Dumme, lächerliche, erfundene Märchen. Und in dem Moment, in dem Victor genau das dachte, wollte er ein Happy End. Für sich, für Gerhard. Aber das waren alles nur Träumereien. Er war nicht mehr in der Welt voller Farben, er war zurück in seiner eigenen, grauen Welt in der ihn jeder außer Gerhard und Igor, seinem Diener, verachtete. Er wollte auch ein Happy End, zurück im Zauberwald, in der Welt in der alles möglich zu sein schien. Jedoch war es zu spät. Er hatte gedacht, sein einziges Ziel, sein größter Wunsch wäre es gewesen, Gerhard wiederzubeleben. Er hatte gedacht, es war das Richtige. Und er hatte falsch gelegen. Diese Realisation traf ihn hart. Victor klappte sein Zeichenbuch zu und stand abrupt auf. „Das reicht für heute.", murmelte er und verließ fluchtartig den Raum, seines Bruders keines Blickes mehr würdigend. Er wünschte, er könnte alles rückgängig machen und im Zauberwald bleiben. Für immer. Er wünschte, er hätte auf sein eigenes Herz gehört und wäre nicht in seine Welt zurückgekehrt. Er wünschte, er wäre bei Jefferson geblieben. Aber es war zu spät. Jetzt war er sein restliches Leben dazu verdammt, hierzubleiben und das einzige, was ihm als Andenken blieb, waren seine Erinnerungen und seine Zeichnungen.


OneshotsWhere stories live. Discover now