Kapitel 83

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Als ich Stimmen höre halte ich inne.
Mein Vater.
Schon seit Jahren habe ich seine kratzige und einschüchternde Stimme nicht mehr gehört. Ein dicker, nicht herunterzuschluckender Kloß bildet sich in meinem Hals und erschwert mir das Atmen. Innerhalb von Sekunden blitzen diverse Erinnerungen vor meinen Augen auf. Fest umklammere ich das Eisen der Leiter. Erst als ich einen lauten Knall höre, schrecke ich aus meiner Starre auf. Schnell klettere ich den letzten Rest hinauf und blicke durch das Fenster, welches ein Stück offen steht.

Meine Augen weiten sich, als ich Sam auf dem Boden liegen sehe. Erschreckend japse ich nach Luft und versuche, so schnell es mir möglich ist, in diesen Raum zu gelangen. Schweratmend stützt sich Sam auf. Wie paralysiert sieht er mir ins Gesicht. Erst jetzt realisiere ich, dass es ihm relativ gut geht. Physisch jedenfalls. Allerdings liegt ein Mann ein Stück weiter rechts von ihm. Unwillkürlich sammeln sich Tränen in meinen Augen. Immer wieder sehe ich meinen Bruder und den dort liegenden Mann abwechselnd an.

„Scheiße, ich hatte doch gesagt, dass du warten sollst! Was ist daran denn verdammt nochmal nicht zu verstehen?!" In seiner Stimmlage liegt Wut, Angst, Verzweiflung und noch viele weitere Emotionen. Sam versucht sich mithilfe eines Stuhles aufrecht hinzustellen, scheitert jedoch und fällt unsanft zu Boden. Darauf folgt ein schmerzerfüllter Schrei, durch welchen ich seinen inneren Schmerz herausfiltern kann. Schnell befreie ich mich aus einer weiteren Starre und gehe zügig in seine Richtung. „Verpiss dich", zischt mein Bruder verächtlich und versucht sich erneut am Tisch hochzuziehen. „Lass mich dir helfen", sage ich sanft und will ihm zur Hilfe kommen. „Fass mich nicht an, kapiert?!" Leicht zucke ich zusammen. Was ist bloß aus dem kleinen ängstlichen Jungen geworden, der um meine Hilfe gebettelt hat?

Frustriert atme ich aus und drehe mich zu meinem Vater um. Unsicher gehe ich, wie in Slomotion, auf ihn zu. Mir fällt, die neben ihm liegende Flasche, erst jetzt auf. Anscheinend hat Sam unseren Vater mit der Flasche auf den Kopf geschlagen.

Rote Flüssigkeit läuft von einer Schläfe hinunter auf den Boden. Regungslos liegt er vor mir. Ein unbeschreibliches, gemischtes Gefühl breitet sich in mir aus. Bei seinem Anblick wird mir etwas Schlecht, weswegen ich wieder rüber zu Sam sehe. Dieser steht inzwischen wieder aufrecht und sieht gefühlskalt auf unseren am Boden liegenden Vater herab. Stumm wendet er sich in die Richtung des Fensters zu und geht darauf zu.

„Warte, was hast du vor," frage ich unsicher, wie ich als nächstes handeln soll. Sam jedoch schiebt das halb geöffnete Fenster nun komplett nach oben. Gleichgültig mustert er mich. „Ich verschwinde jetzt von hier. Du kannst machen was du willst, aber ich würde dir raten, nicht hier zu bleiben."

Sprachlos sehe ich ihn an.
Will er Dad da jetzt einfach so liegen lassen? Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Er hat uns so viel Leid gebracht. Allerdings ist er dennoch unser Vater und wenn wir ihn hier so zurücklassen, sind wir kein Stück besser als er.

Ich schließe meine Augen und atme tief durch. Sam und ich haben uns gerade erst wiedergefunden. Ich kann ihn nicht noch einmal verlieren.

Niemals.

Gefangen in London (tbs ff)Where stories live. Discover now