Die Szene auf der Hochzeit dauerte nicht so lang, wie ich wünschte. Ich wollte meine Eltern ansehen. Ich wollte mir ausmalen, wie es gewesen wäre, bei ihnen aufzuwachsen. Ich wollte wissen, wie es gewesen wäre, in Evelyns Armen einzuschlafen und mit Mike zu spielen. Mom. Dad.
Doch sie waren zu schnell wieder weg und als der Sog mich aus der Szenerie zog, kam es mir vor, als würde ich aus einem schönen Traum wiedererwachen und merken, dass mein Leben doch nicht so schön war.
Der Raum, in dem ich stand war groß. Groß im Gegensatz zu der kleinen Küche von Ms. Lowburgh. Groß im Gegensatz zu meinem Zimmer im Heim. Sogar groß im Gegensatz zu meinem Zimmer in der Schule. Es war ein Büro. Und, wie in jeder anderen Szene auch, war Ms. Lowburgh hier. Natürlich. Es schienen ja ihre Erinnerungen zu sein. Aber diesmal waren die Farben nicht so grell und fröhlich, wie in den anderen Situationen. Als wäre es keine schöne Erinnerung.
Ms. Lowburgh saß auf einem großen Bürostuhl. Sie war wieder um einige Jahre gealtert. Auf dem goldenen Schildchen, das auf ihrem großen Schreibtisch stand, war Hella Steeveson, Ordnungshüterin eingraviert.
Also war sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet gewesen.
Es klopfte.
Ein junger Mann lief in das Zimmer. Er hatte rotes Haar und Sommersprossen. Und seine Gesichtsfarbe passte optimal dazu. Er war außer Atem.
„Ms. Lowburgh", keuchte er. „Ms. Lowburgh"
Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den schäbigen Stuhl gegenüber von ihr.
„Jonas, schön, dass Sie nun endlich den Weg zu meinem Büro gefunden haben", begrüßte Ms. Lowburgh ihn schnippisch. „Mein Namensschild muss ausgetauscht werden. Ich bin schon seit Wochen verheiratet"
Ups.
„Ja...was das betrifft...", Jonas wurde noch röter. „Nun ja...es gab Probleme mit der Gravur und dann...dann musste ich das Schild neu bestellen...ja und jetzt..."
„Kommen Sie auf den Punkt", seufzte Ms. Lowburgh gelangweilt und nahm einen Schluck Wasser. „Wenn sie nicht deswegen da sind, weshalb dann?"
Jonas schaute aufgeregt drein, als ob ihm gerade erst wieder eingefallen wäre, warum er hier war.
„Ms. Lowburgh...es...es gab eine Sichtung", stammelte er.
„Eine Sichtung von was, Jonas?", Ms. Lowburgh war auf einmal um einiges aufmerksamer.
„Regelbrecher", sagte er. „Zwei Regelbrecher"
„Das...das ist nicht möglich", nun war Ms. Lowburgh diejenige, die stammelte. „Nie gab es zwei Regelbrecher auf einmal"
„Das habe ich auch gesagt! Wir hatten seit Wochen keinen Regelbrecher mehr. Und jetzt zwei auf einmal? So etwas ist noch nie passiert"
„Ich weiß, Jonas", murmelte Ms. Lowburgh. „Wo und wer?"
„An der St. Linston–Brücke. Ms. und Mr. Evertowsky", sagte Jonas.
Und ich war mindestens so überrascht, wie Ms. Lowburgh aussah.
„Sagten Sie Evertowsky?"
Jonas nickte und Ms. Lowburgh stand auf. Sie schüttelte den Kopf.
„Niemals. Nein. Nein, nicht Evelyn", sie sah den jungen Mann forsch an. „Sind Sie sich sicher?"
„Absolut", er nickte bekräftigend. „Darf ich fragen, wo das Problem liegt?"
„Nein", zischte sie. „Nein, dürfen Sie nicht"
Ich musste urplötzlich daran denken, als ich in der Bibliothek nach Evertowsky gesucht hatte. Es gab keinen Eintrag zu der Familie und der Name selbst war durchgestrichen gewesen. Es gab dafür sicher einen Grund...
„Das Treffen mit den restlichen Ordnungshütern findet noch heute Abend statt", sagte Jonas und stand auf. „Es war meine Aufgabe, Ihnen die Nachricht zu überbringen. Schönen Abend noch"
Ms. Lowburgh erwiderte nichts.
Der Strudel empfing mich und katapultierte mich diesmal nicht in eine komplett neue Umgebung. Es waren Bilder. Normale Bilder, die an mir vorbeizogen, so schnell, dass ich kaum erkennen konnte, was darauf abgebildet war. Aber es wäre mir lieber gewesen, ich hätte es nicht gesehen.
Tote Körper.
Blut.
Zu Schreien aufgerissene Münder.
Zwei Gestalten, gehüllt in dunkle Mäntel.
-
Schwärze.
Komplette Dunkelheit.
Stille.
Ich sah nichts, ich hörte nichts. Ich fühlte nichts. Weder Boden unter meinen Füßen, noch Wände um mich herum. Es war, als ob ich schweben würde und irgendwie doch nicht. Es war merkwürdig. Ein Loch in den Erinnerungen von Ms. Lowburgh. Es war, als ob sie vergessen wollte.
Dann wurde es langsam heller. Stimmen drangen zu mir durch, als ob man ein altes Radio langsam lauter drehen würde.
Ms. Lowburgh saß an einer langen Tafel. Nicht nur sie, sondern auch alle anderen Anwesenden trugen dasselbe Gewand. Bestickt mit dem Symbol der Zentrale der Elemente über der Brust. Und nicht nur sie, sondern auch alle anderen sahen fertig aus. Als hätten sie das längste Wochenende ihres Lebens hinter sich und nun einen mordsmäßigen Kater.
Aber das, was passiert ist, musste weitaus schlimmer gewesen sein.
Ms. Lowburgh sah am Schlimmsten aus. Ihre Augen waren rot umrandet und angeschwollen. Als hätte sie die letzten Tage ausschließlich damit verbracht, zu weinen. Was ihr auch niemand verübeln würde.
Eine Frau, die sich in ihrer besten Freundin getäuscht hatte und sich gegen sie stellen musste. Gegen sie kämpfen musste.
Ein Mann räusperte sich. Er war alt und saß am Kopfende der Tafel. Doch nun erhob er sich.
„Liebe Ordnungshüter, liebe Kollegen", sagte er sanft. Doch auch ihm war der Stress, die Last und die Enttäuschung anzusehen. „Ich möchte sie recht herzlich zu der Endbesprechung des Falles Evertowsky begrüßen und ihnen für ihren Einsatz danken"
Doch in seiner Stimme schwang nicht die Festlichkeit mit, die zu diesen Worten gehört hätte. Seine Stimme war leise und rau und traurig.
„Wir haben gesiegt, doch trotzdem so viel verloren. Uns wurden unsere Leute weggenommen. Ermordet. Zu viele, zu gute Menschen aus unserem, sowieso schon winzigen Volk. Wir wurden ein weiteres Mal enttäuscht von einem Menschen aus unseren eigenen Reihen. Einem Menschen, der sich mit einem aus der anderen Welt verbündet hat. Gegen uns. Gegen seine Heimatwelt. Es wurde sich gegen uns aufgelehnt. Schon wieder. Nur diesmal heftiger und schlimmer als je zuvor. Unsere magischen Wesen wurden entführt, sie wurden gefoltert und dressiert. Unsere Tiere wurden zu einer Todeswaffe gegen uns selbst geschmiedet. Zu viele von den magischen Tierwesen haben Leid erfahren, mussten gegen uns kämpfen. Zu viele Ordnungshüter haben in dieser Schlacht ihr Leben gelassen, zu viele Unschuldige mussten sterben. Zu viele Städte wurden vernichtet und doch hat man uns nicht gebrochen. Wir sitzen hier noch immer, vereint und stark. Unser Volk steht noch immer hinter uns und wir können stolz sein, zu sagen, dass wir gesiegt haben"
Er hielt kurz inne und nickte jedem Anwesenden zu. Ms. Lowburgh sah er besonders lange an und ich meinte, ich würde Mitgefühl in seinem Blick erkennen.
„Eine Sache, die ich mit euch, meine lieben Freude noch besprechen muss, ist wohl die Offensichtlichste", er schloss kurz die Augen. „Was passiert mit dem Kind?"
Schweigen.
Dann rief ein kräftig gebauter Mann in die Stille.
„Tötet es", er sagte es kalt und bestimmt.
Entsetztes Einatmen.
„Bitte?", fragte eine Frau empört.
„Bitte was?", schnauzte er. „Ein Kind, von zwei kaltblütigen Mördern in die Welt gesetzt. Tötet es, bevor es in die Fußstapfen seiner Eltern tritt"
„Das kann nicht Ihr Ernst sein, Kollter!", wiedersprach ein junger Mann.
„Sehr wohl ist das mein Ernst!", die Stimme des kalten Mannes war tief und dröhnte in meinen Ohren. „Sie haben so viele von uns umgebracht. Dann werden wohl wir ihre kleine Göre umbringen können!"
„Es reicht, Kollter", sagte der alte Mann leise. Er stand noch immer und hielt beschwichtigend seine Hand in die Höhe. „Man bezahlt Tod nicht mit Tod. Wir bezahlen Tod nicht mit Tod"
„Das Kind", die Stimme der Frau, die jetzt sprach, war leise und so zerbrechlich, wie sie selbst aussah. Kaum vorstellbar, dass sie sich gegen Regelbrecher auflehnen konnte, ihnen die Meinung geigen konnte. „Das Kind hat uns gerettet. Es wäre nicht nur ein Skandal, unsere Heldin zu töten. Nein, es wäre auch eine Unverschämtheit, ihr nicht genug Dank entgegenzubringen"
„Gerettet würde ich das jetzt nicht sagen", murmelte eine griesgrämig dreinblickende Frau.
„Doch. Genau das hat sie getan. Genau in dem Moment, als die Regelbrecher den letzten Schritt zu ihrer unglaublichen Tat vollbringen wollten. In dem Moment, in dem sie unsere Welt zerstört hätten, uns verraten hätten, uns gebrochen hätten, hat das Kind uns gerettet, indem es auf die Welt gekommen ist"
„Es ist wahr", der alte Mann ergriff wieder das Wort. „Alliston hat Recht. Das Kind hat uns genug Zeit verschafft, um ihren Plan zu durchkreuzen"
„Ich werde sie zu mir nehmen", flüsterte Ms. Lowburgh schließlich. Obwohl sie so leise war, hörte ihr jeder zu und urplötzlich war es mucksmäuschenstill.
„Das geht nicht" sagte die Frau neben ihr und legte ihre Hand auf die meiner Schulleiterin. „Es ist ein Kind von einer Frau aus unserer Welt und einem Mann aus der anderen Welt. Sie wird kein Element beherrschen können. Sie gehört nicht in unsere Welt. Sie gehört in die andere Welt"
„Woher willst du das wissen, Margret?", fragte Ms. Lowburgh und sah der Frau in die Augen. „Es gab noch nie so einen Fall. Noch nie hat ein Paar aus zwei unterschiedlichen Welten ein Kind bekommen"
„Naja", jetzt mischte sich eine kleine Frau mit einer runden, dicken Brille ein. „Es wurden aber zur Genüge Experimente gemacht. Und immer, ausnahmslos, hat sich die DNA des normalen Elternteils durchgesetzt"
Ms. Lowburghs Augen wurden glasig und sie seufzte.
„Na schön. Dann werde ich mich darum kümmern, dass sie in guten Händen aufwächst"
Beinahe hätte ich aufgelacht, als ich an Tracy und das Heim dachte.
In guten Händen.
„Vielen Dank, Ms. Lowburgh", der alte Mann ergriff wieder das Wort.
„Dieser Angriff hat die Leute verängstigt und verschreckt. Viele trauen sich nicht mehr aus ihren Häusern, vorausgesetzt sie haben noch einen halbwegs unversehrten Unterschlupf. Viele sind obdachlos, haben Familie und Freunde verloren und sind einsam. Dazu kommen die schrecklichen Erinnerungen an die Schlacht und die Angst vor den Tätern. Das Todespaar ist zwar weg, keiner weiß aber, wohin sie gegangen sind und ob sie zurückkehren werden. Und das ist dem Volk genauso klar, wie uns auch. Sie machen sich Gedanken, fürchten die Zukunft"
„Was wollen sie uns sagen, Richardson?", fragte die Frau mit der leisen Stimme.
„Dass wir etwas machen müssen, was wir noch nie gewagt haben, zu tun. Wir müssen etwas tun, was uns an den Rand unserer Fähigkeiten bringt. Wir müssen etwas tun, was wir dennoch schaffen können. Wir müssen sie vergessen lassen"
Der Strudel packte mich und riss mich aus der Erinnerung von Ms. Lowburgh. Er zog mich in seine Arme, wie ein alter Bekannter und umschloss mich, zeigte mir nur Schwärze und nahm mich in den Arm, als ob er wüsste, was in mir vorging.
Und dann spuckte er mich aus.
Ich landete wieder vor dem Spiegel auf dem Holzboden und rappelte mich auf.
Ms. Lowburgh stand noch immer dort, wo sie gestanden hatte, als ich den Spiegel betreten hatte und ich fragte mich, wie lange ich in ihren Erinnerungen verbracht hatte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, was ich fühlen sollte. All die Informationen, die man mir in Sekundenschnelle in mein Hirn gedonnert hat, hatte ich noch nicht wirklich realisiert. Heldin? Mörder. Schlacht und Tod und Blut und Schreie. Stille und Dunkelheit und Schwärze und Ms. Lowburgh. Das Kind töten? Mich töten. Heldin. Todespaar. Untergang.
Ich starrte Ms. Lowburgh an, unfähig etwas zu sagen.
Sie machte den Mund auf, als ob sie etwas sagen wollte und schien es sich keine Sekunde später doch anders überlegt zu haben. Sie machte einen Schritt auf mich zu. Noch einen. Und dann stand sie direkt vor mir und nahm mich in die Arme.
Ich weiß nicht, wie lange ich in ihren Armen lag und weinte.