3 - Irgendwie anders

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Laute Gespräche, jeder versucht den Lärm der knatternden Duschen zu übertönen und dabei auch noch lauter als der Nebenmann zu sein Nebenfrau, um genau zu sein. Immerhin befand ich mich gerade im Waschraum der Mädchen. Die Schlange vor den Duschen war lang und es war schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit, unbemerkt Shampoo und Duschgel von den anderen Mädchen zu klauen. Meine Zehen kräuselten sich auf den kalten Fliesen und ich verließ meinen Platz in der Warteschlange, um mich leise aus dem Badezimmer zu schleichen. Was schon ein bisschen unnötig war, denn bei dem Geräuschpegel hätte ich auch laut stampfend das Zimmer verlassen können und es wäre niemanden aufgefallen. Es wäre wahrscheinlich sowieso niemanden aufgefallen, ob ich nun da war oder nicht.

In meinem winzigen Zimmer angekommen ließ ich mich auf das harte Bett fallen und ignorierte das laute Ächzen, das es von sich gab. Der Tag war lang und eigentlich hatte ich eine ausgiebige Dusche dringend nötig. Wahrscheinlich sollte ich mich unbedingt mit den explodierenden Waschbecken aus dem Chemiesaal beschäftigen und mir selbst Fragen stellen, auf die ich selbst keine Antwort hatte. War es meine Schuld gewesen? Ich wusste es nicht. Hatte es etwas mit dem schrecklichen Etwas zu tun? Wahrscheinlich. Und wie wahrscheinlich war es, dass jemand mitbekommen hatte, dass ich nicht ganz unbeteiligt daran war? Ziemlich unwahrscheinlich. In der Schule hat sich das Gerücht von einer Verstopfung der Rohre so schnell verbreitet, dass ich fast selbst daran glaubte. Bildete ich mir das Monster nur ein? Das Etwas, das in mir hauste, sobald ich mit mir selbst zu kämpfen hatte? Es war nicht ganz auszuschließen. Immerhin hatte ich ja auch keine einzige Erklärung dafür. Wurde ich schon verrückt? Auch das wusste ich nicht. Vielleicht war es ja wirklich nur reine Einbildung. Ja. Vielleicht war es ja nicht echt gewesen.

Ich rollte mich auf die Seite, starrte die fleckige Wand mir gegenüber an. Sie musste einmal weiß gewesen sein, aber jetzt war sie hellgrau. Und das eigentlich auch nur, wenn das Licht günstig fiel. Eine dunkle Delle hinter der Tür auf Höhe des Türknaufes zeugte von mehreren Vorfällen, in denen die Tür wütend aufgetreten wurde. Nicht selten war ich diejenige gewesen, die verzweifelt in das Zimmer gestürmt kam. Oft war es, weil ich von den älteren Jungs ständig schickaniert wurde, als ich jünger war. Vielleicht hatte ich jetzt deswegen so ein dickes Fell. Weil meine Vergangenheit mich geprägt hat, so wie sie es auch mit jedem anderen tut. Aber meine war wahrscheinlich weniger schön und dafür umso hässlicher gewesen, als die von den meisten anderen. Ich hatte nie die Liebe einer Mutter gespürt. Ich wurde lediglich auf den kalten Stufen dieses dreckigen Heims zurückgelassen, als wäre ich Ballast. War ich vielleicht auch. Wahrscheinlich. Wahrscheinlich war ein nur ein Produkt einer bedeutungslosen Nacht. Wahrscheinlich hatten sich meine Eltern nicht mal geliebt. Und so fühlte ich mich auch. Ungeliebt. Von Tracy hatte ich nie Liebe bekommen. Auch vor sechzehn Jahren nicht, als sie mich aufgegabelt hat, laut fluchend, da sie jetzt noch ein Kind mehr um sich herum hatte. Ich war auch schon in vielen Pflegefamilien gewesen. Aber es waren entweder Leute, die keine Liebe für mich übrig hatten, Familien mit Eltern, deren Herz so kalt war wie das von Tracy oder es waren Familien, die mir ihre Liebe nicht geben wollten. Ich war ihnen nicht offen genug. Zu abweisend. Ich habe nicht geredet, ich habe mich ihnen nicht anvertraut. Ich habe geschwiegen. Und das war meistens auch der Grund, warum ich immer wieder zu Tracy zurückkam.

Ich hatte mich schon oft genug gefragt, ob mein Leben besser verlaufen wäre, wenn ich bei meinen Eltern aufgewachsen wäre. Ich hoffte natürlich immer, die Antwort würde ja lauten. Aber ich wusste es nicht. Ich wusste nichts von meinen Eltern und sie konnten genauso gut so schlimm wie Tracy sein. Oder noch schlimmer. Vielleicht waren sie auch tot. Vielleicht waren sie drogenabhängig. Ich wusste es nicht. Trotzdem hoffte ich immer weiter. Es war das einzige, was mir blieb. Hoffnung. Es war das einzige, das jedem Kind hier im Waisenhaus blieb. Ich hatte zwar eine Menge Hass für meine Eltern übrig. Sie hatten mich zurückgelassen. Hier. Allein. Bei Tracy. Ohne eine Zukunft. Aber der Gedanke, dass es mir mit ihnen vielleicht besser ergangen wäre, tröstete mich. Er hielt mich über Wasser und passte auf, dass ich nicht unterging.

Über meine Eltern nachzudenken machte mich traurig. Aber es verging doch kein Tag, an dem ich nicht hoffte, dass sie auf einmal, aus heiterem Himmel, auftauchen würden. Aber an jedem Tag blieb nichts mehr als diese unsagbare Traurigkeit. Wie jetzt auch, als ich aufstand, mein Zimmer verließ und durch den dunklen Flur tapste.

Der Waschraum war leer. Naja, fast. Ein einziges weiteres Mädchen stand an den Waschbecken und putzte sich die Zähne. Dabei sah sie sich so dermaßen verliebt im Spiegel an, dass ich ihr am liebsten eine gescheuert hätte. Aber ich war zu traurig es zu tun. Und Tracys Stimme in meinem Kopf, das Bild von ihrem erhobenen Zeigefinger hielt mich davon ab. Ich konnte nicht schon wieder mein monatliches Taschengeld auf das Spiel setzen. Außerdem konnte ich so die Situation nutzen und mir das Duschgel von einem anderen Mädchen zu klauen, ohne dass sie es bemerkte. Ich stellte mich in die Duschkabine und schlüpfte aus meinen Sachen, bereute im selben Augenblick, mich überhaupt dazu entschlossen zu haben, zu duschen. Egal, ob ich nach Schweiß roch oder nicht, es war eisig kalt und das Duschwasser würde es sicher nicht besser machen.

Ich seufzte leise und fluchte innerlich. Weil ich hier war, während andere Leute warmes Wasser als Selbstverständlichkeit ansahen. Während meine Eltern irgendwo saßen und sich über ihre Kinderlosigkeit freuten. Während meine Eltern vielleicht irgendwo saßen, meine Geschwister auf dem Schoß, und schon lange vergessen haben, dass sie ihre älteste Tochter vor langer Zeit einfach abgeschoben haben. Die Traurigkeit verbreitete sich in mir und nahm mich ein. Sie wühlte mich auf und als ich das Wasser aufdrehen wollte, stockte mir der Atem. Ich kannte das Gefühl. Und es war nichts Geringeres als das Etwas, das schon seit dem Morgen meines Geburtstages sein Unwesen trieb. Doch es war nicht so aufbrausend. Es verbreitete sich langsam und leise. Was nichts an der Tatsache änderte, dass es Besitz von mir ergriff und mich einnahm. Dass ich unglaublich Angst davor hatte und dass es an mir rüttelte und hoffte, dass ich nachgab. Es schlich in mir umher, als ob es hoffte, dass ich es nicht bemerkte. Aber ich bemerkte es sehr wohl. Aber diesmal gab ich nicht nach. Diesmal würde ich nicht einfach die Kontrolle verlieren, wie im Chemieunterricht. Diesmal würden keine Waschbecken explodieren.

Also ignorierte ich es so gut es ging. Ich ignorierte das Ziehen, das Stechen und das Drücken. Ich ignorierte, wie es mich anstupste, meine Aufmerksamkeit wollte und wie es sich an mir festkrallte. Ich ignorierte es und drehte das Wasser auf.

Es war, als würden sich tausend kleine Nadeln in meinen Körper bohren.
Als ob jemand einen Dartpfeil nach dem anderen auf mich warf und dabei nicht merkte, dass ich keine Zielscheibe war.

Es war zu kalt, viel zu kalt.

Und ich wünschte mir einfach nur, dass es wärmer wurde.

Und in diesem Augenblick regte sich das Etwas. Ich hatte schon gehofft, es wäre wieder weg. Aber es schien nur aufgegeben zu haben, um meine Aufmerksamkeit zu buhlen, und jetzt streckte und räkelte es sich wieder, als ob es aus einem langen Schlaf erwacht wäre. Und es war diesmal nicht schmerzhaft. Es wickelte sich nicht um meine Luftröhre. Es zog nicht an mir, es wollte meine Aufmerksamkeit nicht. Es wurde sanfter, als ob es endlich wüsste, was es tat, als ob es ein Ziel hätte, eine Aufgabe. Es war zum ersten Mal so, als ob es sich nicht gegen mich stellen würde.

Und keine Sekunde später merkte ich auch, was es getan hatte.

Das Wasser, das auf meine Schultern prasselte war nun nicht mehr kalt. Nein, es war brühend heiß und ich hüpfte aus dem Wasserstrahl, um mir den Rücken nicht zu verbrennen. Und dann war es wieder kälter. Nicht mehr heiß, nicht mehr eiskalt. Es war warm und ich blinzelte die Tränen weg, als ich wieder unter der Duschlampe stand und die Wärme genoss.

Ab und zu wurde das Wasser wieder wärmer oder kälter, manchmal wurde das Wasser weniger oder hörte komplett auf, zu fließen. Aber es war warm und ich war so unglaublich dankbar dafür. Und es war mir egal, ob Tracy mir am nächsten Tag die Mahlzeit strich, weil ich zu viel Wasser verbraucht hatte.

Es war es wert.

Definitiv.

School of ElementsWhere stories live. Discover now