Kapitel 34 - Zeit zu sterben

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Ich fiel.

Und obwohl ich dem Boden in einem halsbrecherischen Tempo entgegenbrause, fühlte sich alles wie in Zeitlupe an. Ich hörte mich selbst schreien, mit Mona im Duett. Das Rauschen der Wellen unter uns, das Zischen des lauten Winds. Eine Sinfonie des Grauens. Ich sah nur den Sand, sah die Felsen, die dort unten auf mich warteten und mich mit offenen Armen empfingen, als wären sie alte Verwandte und nicht die Begleiter in einen schrecklichen Tod. Ich drehte mich in der Luft, hörte Mona nun nicht mehr nur, sondern sah sie, wie sie knapp über mir ihrem Schicksal entgegenfiel.

Die Panik wallte nur langsam in mir auf. Vielleicht, weil es schon längst zu spät war. Weil das Schicksal schon längst entschieden war. Vielleicht, weil es so sein sollte. Doch als ich dem Boden, dem schrecklich lähmenden Aufprall schon viel zu nah war, kochte in mir die Wut hoch, verschwendete ich zum ersten Mal einen Gedanken an Emmet. An Emmet, der dort oben stand. Emmet, der zwei Morde auf einen Schlag begangen hatte. Erneut?

Wie musste er sich fühlen? Die beiden Mädchen, seine besten Freunde, nun in die Tiefe stürzen zu sehen. Er würde sehen, wie wir auf dem Boden aufkommen. Würde er unsere leblosen Augen sehen, die nach oben in den Himmel gerichtet waren? Würde er das Knacken hören, wenn unser Genick brach? Würde er nicht. Dafür war die Geräuschkulisse zu laut, zu ähnlich war sie Emmets Lachen. Lachte er? Weinte er? Was fühlte er? Was tat er?

Ich wusste es nicht.

Ich konnte es nicht sagen.

Ich habe gedacht ich kannte ihn. Kannte ihn besser als mich selbst. Seine Mine hatte ich immer lesen können, so wie er meine. Aber vielleicht war er nicht so lesbar, so undurchdringlich ehrlich, wie ich geglaubt hatte. Vielleicht war er nicht der Mensch, den ich zu kennen geglaubt hatte. Vielleicht war er jemand anderes.

Vielleicht war er der Mörder, den wir suchten.

Doch ich hatte nun keine Möglichkeit mehr, mich auf Emmet zu konzentrieren. Mir fehlte die Kraft, mir fehlte die Zeit, an ihn zu denken. Denn nun war ich dem Grund so nah, nur wenige Meter trennten mich von dem weichen Sand, auf den ich im Bruchteil einer Sekunde hart auftreffen werde. Der Boden, von dem ich nie wieder aufstehen werden können. Die Stelle, an der wir in ein, zwei Tagen von einem Lehrer, einem Schüler gefunden werden. Tot.

Ich schloss die Augen, blendete Monas Schreie aus, versuchte nichts mehr zu fühlen.

Der Aufprall war weicher, als ich geglaubt hatte. Ich spürte zuerst keinen Schmerz, spürte auch nach kurzer Zeit keinen. Er ließ auf sich warten. Er ließ mich schmoren, mich leben, bis mich die Höllenqualen übermannen würden und mich mit sich zerren würden in eine bessere Welt. Ich wollte die Augen öffnen, ich wollte sie aufmachen, um Mona ein letztes Mal zu sehen. Ich erwartete, dass es mir schwerfallen würde, dass ich es nicht schaffen würde. Doch lediglich ein heftiger Wind war das einzige Hindernis, das mich an einem problemlosen Augenaufschlag hinderte. Er zerrte an meinen Haaren, an meiner Kleidung. Der Sand einen knappen Meter unter mir stob auf. Und ich brauchte viel zu lange, um zu merken, dass ich nicht am Boden aufgekommen war. Ich schwebte, gehalten von starken, mächtigen Winden, über dem Strand und den Felsen. Ich konnte nicht denken, ich konnte mich nicht bewegen. Die Winde hielten mich, als wären sie eiserne Fesseln. Fesseln, die mich vor einem schmerzhaften Tode bewahrt hatten.

Ich sah Mona nicht, ich hörte sie nicht. Und plötzlich durchfuhr mich eine riesengroße Angst. Ich lebte. Das war gut, ja. Aber was war, wenn Mona nicht mehr am Leben war? Was, wenn Emmet meine beste Freundin ermordet hatte? Eine Gänsehaut bildete sich auf meiner Haut, obwohl die Winde, die mich umhüllten, angenehm warm waren.

Und dann bewegte ich mich. Oder jedenfalls die Winde, sie wanderten langsam nach oben, weg vom Strand. Sie wurden schneller und schneller und im Gegensatz zu meinem Fall lief alles in Rekordgeschwindigkeit ab. Ich entfernte mich vom Boden, mit jeder Sekunde schneller und zu meiner Erleichterung erkannte ich, dass Mona mir bald darauf folgte, ebenfalls in Winde gehüllt. Ihr Gesicht war kreidebleich, sie starrte mir wortlos entgegen, stellte mir mit ihrem Blick unausgesprochene Fragen. Doch ich konnte sie ihr nicht beantworten, ich konnte ihr nur entgegenstürzen und sie in die Arme nehmen, als wir endlich auf dem Plateau angekommen waren. Die Stelle, von welcher zuvor...

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