Kapitel 27 - Die Last des Atlas

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Ich verließ an diesem Tag mein kleines Zimmer nicht mehr.

Ich ging nicht zum Abendessen, auch nicht als ein Papierflieger durch mein geöffnetes Fenster geflogen kam, in dem Emmet und Mona fragten, wo ich denn blieb. Aber ich wollte nicht. Nicht einmal, wenn ich Hunger gehabt hätte. Ich wollte Mona und Emmet nicht sehen. Ich wollte ihnen nicht in die Augen blicken und ihnen verschweigen müssen, was ich für Entdeckungen gemacht hatte. Ich wollte Anthony nicht sehen und ich wollte nicht ständig zum Lehrertisch schielen müssen und mich fragen, ob einer von ihnen von der Leiche wusste. Ich wollte nicht.

Also wanderte ich abwechselnd vom großen Ohrensessel in mein Bett und wieder zurück, um Ablenkung zu finden. Aber als schließlich nicht einmal der Berg von Hausaufgaben, den ich Tag für Tag vor mir herschob, in Angriff genommen werden konnte, ohne dass meine Gedanken immer wieder zu dem leblosen Körper zurück schweiften, ging ich ins Badezimmer um zu duschen.

Das Wasser war angenehm warm und prasselte sanft auf meine Schultern. Ich atmete tief ein und aus, doch jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, sah ich es. Sah ich sie. Sie blickte starr in den Himmel, in den schönen Augen keine Spur von Leben. Ich schluckte und öffnete die Augen. Je mehr ich daran dachte, desto kälter wurde das Wasser, das auf mich herunterregnete und desto schlimmer fühlte ich mich. Es war erschreckend, wie das Wasser auf meine Gemütslagen reagierte, als ob es genau wüsste, was in mir vorgeht. Wusste es wahrscheinlich auch. Doch die Gabe hauste heute nicht ganz so sehr, verbreitete ihr Unwesen nicht ganz so stark wie immer, als würde sie Rücksicht auf mich nehmen wollen. Doch ich konnte ihr keine Dankbarkeit zeigen. Ich stampfte wütend aus der Dusche, geärgert darüber, dass ich nirgends Ablenkung fand.

Schließlich löschte ich das Licht in meinem Zimmer, schloss das Fenster und kuschelte mich in mein weiches Bett.

-

„Alice", zischte Tracy und ich zuckte zusammen. „Aus dir wird nie etwas werden"

Ich ignorierte sie. Ich wusste, dass sie das nur sagte, weil sie einen unglaublichen Hass mit sich herumtrug. Vielleicht meinte sie es ja nicht einmal so. Aber irgendetwas in mir stimmte ihr zu. Was soll den auch aus mir werden? Im Kopf hatte ich nichts, ich war schon immer zu faul zum Lernen gewesen und werde es wohl auch immer bleiben. Was ist, wenn ich irgendwann kein Recht mehr auf einen Platz im Waisenhaus hatte? Würde ich auf der Straße landen? Es waren vielleicht etwas große Fragen für eine siebenjährige Alice. Aber als Tracy mir das schmuddelige Blatt Papier aus der Hand riss, konnte ich an nichts anderes denken. Ich versuchte, die Tränen zu unterdrücken, als sie mein Bild, das ich mit Wachsmalstiften gemalt hatte langsam zerriss.

„Amanda hat mir ein viel schöneres Bild geschenkt", sagte sie boshaft und grinste mich mit ihren schiefen Zähnen an. Sie deutete auf das Bild, das am Kühlschrank heftete und lächelte stolz. Ich wagte nicht, mich zu verteidigen. Ich wagte nicht, damit zu argumentieren, dass Amanda auch zwei Jahre älter als ich war. Ich traute mich nicht. Wem wollte ich etwas beweisen? Tracy? Mir? Wem? Es glaubte doch sowieso niemand an mich. Nicht einmal ich selbst. Also weshalb sollte ich mich bemühen?

-

Ich blinzelte. Ich hatte kaum Schlaf gefunden, fühlte mich aber trotzdem relativ ausgeruht. Selbst durch das geschlossene Fenster konnte ich die Vögel zwitschern hören und wenn ich durch die Glasfront nach draußen sah, konnte ich den Sonnenaufgang beobachten. Es waren immer die ersten Sekunden nach dem Aufwachen, die so perfekt waren. Die Sekunden, bevor man sich an die Gegebenheiten erinnerte. Die Sekunden, in denen man das alles noch nicht realisiert hat. Und manchmal dauerten diese Sekunden auch Minuten und manchmal Unendlichkeiten. Doch alles ist endlich und als die Ereignisse vom Vortag mich überrollten wie eine riesengroße Dampfwalze, ließ ich mich wieder langsam in die Kissen sinken. Das Gewicht eines Toten, das Gewicht eines beendeten Lebens lag so schwer auf meinem Herzen wie der Himmel auf den Schultern des Atlas. Atlas, der die Last des Himmels nicht teilen konnte. War ich Atlas? Musste ich diese Last mit mir herumtragen? Oder konnte ich sie mit jemand andren teilen?

Ich wusste es nicht.

Wahrscheinlich musste ich es herausfinden.

-

„Atlas hatte es verdient, es war eine gerechte Strafe", flüsterte ich in Ignis Fell. „Aber ich. Ich kann doch gar nichts dafür!"

Ich sah sie hilfesuchend an. Ihre warmen Augen blickten mir entgegen. In ihrem Blick lag so viel Intelligenz, dass ich schwören könnte, dass sie klüger war, als die meisten meiner alten Schulkameraden. Dass ich schwören könnte, dass sie mich verstand. Leider verstand ich sie nicht, als sie schnaubte und ihren Kopf gegen meine Hand drückte.

Mittlerweile hatte ich weniger Angst vor Ignis. Noch immer eine Menge Respekt, ja. Aber keine Angst mehr.

Ich saß im Sand der weiten Wüste und weit und breit war niemand anderes zu sehen. Denn während die meisten Tiere sich eine Anlage teilten, genoss Ignis die Alleinherrschaft über ihren Lebensraum. Vielleicht lag es daran, dass es keine anderen Wesen gab, die die Wüste als Wohnort bevorzugten, vielleicht aber auch daran, dass Ignis mit ihrer besonders gefährlichen Gabe drohte, alle anderen Arten auszulöschen.

„Meinst du ich soll jemandem davon erzählen?", sagte ich leise und strich über die weiche Mähne. Doch Ignis antwortete nicht, natürlich nicht. Sie sah mich nur weiter aus ihren freundlichen Augen an und schien darauf zu warten, dass ich weiterredete.

„Mona und Emmet? Oder doch lieber einem Lehrer? Vielleicht Anthony?", zählte ich auf und hoffte, Ignis würde bei einem der Namen reagieren. „Was sitze ich hier und erzähle dir von meinen Problemen, als würdest du verstehen was ich sage", lachte ich plötzlich auf, als mir bewusst wurde, wie unglaublich absurd das war, was ich gerade tat.

Und jetzt veränderte sich etwas in Ignis Blick. Sie sah mich fast empört an und schnaubte daraufhin laut. Ihre entspannte Haltung veränderte sich und sie richtete sich auf.

Ich zog die Augenbrauen hoch.

„Also verstehst du mich doch", sagte ich tonlos und seufzte, steckte ihr einen Zuckerwürfel zu.

Ignis streckte sich wieder auf dem warmen Sand aus, legte den Kopf auf die großen Pranken, als wäre sie nichts weiter als ein niedlicher Haushund. Aber sie war eine riesengroße Löwin und wieder einmal wurde mir ihre unglaubliche Autorität bewusst. Wie konnte ein Wesen nur so bezaubernd sein?

Ich wusste wirklich nicht, was ich tun sollte. Und es machte mich wirklich fertig.

Aber ich hatte auch überhaupt keine Möglichkeit, weiter über mein Problem nachzudenken. Denn ich hörte hinter mir ein schreckliches Geräusch.

Erst als ich die Ratte auf mich zukommen sah, merkte ich, woher das Quieken kam.

„Ms. Evertowsky!", schrie er laut und hoch. „Alice! Alice Evertowsky!"

Er rannte über den Sand auf mich zu, bremste zu spät ab und knallte gegen Ignis Pfote. Pranke. Was auch immer.

Sein Hut saß schief zwischen seinen Ohren und er sah mich aus angsterfüllten Augen an.

„Alle", keuchte er. „alle Schüler in den Gemeinschaftsgarten"

„Warum?", fragte ich ihn und reichte ihm seine kleine Aktentasche, die bei seinem Aufprall im Sand gelandet war.

Er zuckte mit den Schultern.

„Eine Anweisung von Ms. Lowburgh. Alle sollen kommen. Sofort. Ganz schnell. Es ist wichtig. Wir müssen da sofort hin. Jetzt. Umgehend! Schleunigst!"

Ich schnappte mir die Ratte und lief schnell los, bevor er noch weitere Synonyme für sofort aufzählen konnte.

***

Hey.

Es gibt keine schlimmere Sünde, als nur zu schreiben, um irgendetwas zu schreiben. Nur zu schreiben, um euch irgendetwas zum Lesen zu geben. Zu schreiben, ohne Plan, ohne Zeit. Mit ganz viel Druck. Aber es ging nicht anders. Hoffentlich findet ihr es nicht ganz so schlimm wie ich.

Vielen Dank für eure Votes und Kommentare. Wir sind leider von #9 auf #400irgendwas gerutscht. Schade aber egal. Wir sind doch in nullkommanix wieder vorne dabei, oder? <3

Ich wünsche euch noch ein schönes Restwochenende und weniger Stress als ich.

- newmoonanna

School of ElementsWhere stories live. Discover now