Kapitel 49 - Seelensplitter

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Der unsagbar lange Weg zum Gemeinschaftsgarten ist mir noch nie so kurz vorgekommen als bei diesem kurzen Spaziergang mit Anthony.

Ich schaute verlegen auf den Boden, als wir über den Skyway liefen, unfähig auch nur ein Gesprächsthema zu finden, das mich nicht komplett aus dem Konzept bringen würde. Also schaute ich nur den winzigen Blättern der Baumkronen unter mir an, wie sie im sachten Wind wehten und sich der Sonne entgegenstreckten, als ob sie sie davon abhalten wollten, hinter dem Horizont zu verschwinden. Genauso fühlte ich mich von Anthony angezogen. Als wäre er eine Sonne, die in meinem Leben aufgetaucht ist und jedes Mal, wenn er verschwand war es so viel kälter und grauer, dass ich mir wünschte, er wäre immer da.

Aber es wäre eine Zumutung gewesen, ihm so ein Geständnis zu machen. Vor allem nicht, nachdem ich ihn so zurückgewiesen hatte. Es war sogar sehr wahrscheinlich, dass er sich schon lange ein anderes Date gesucht hatte. Ich würde es ihm nicht einmal verübeln. Er war ein gutaussehender, talentierter Schülersprecher und hatte es mit Sicherheit nicht nötig, auf die Zustimmung einer Erstklässlerin zu warten. Anthony war niemand, den man warten ließ. Das strahlte alles an ihm aus. Sein Gang, sein Lächeln, seine schüchterne Haltung, die so viel mehr autoritär und charismatisch war, als die der meisten Erwachsenen.

Mein Inneres schrie förmlich danach, ihn nach dem Ball zu fragen. Trotz all der Enttäuschung, die es in meinem Leben zur Genüge gab, gab es etwas, was immer überlebt hat: die Hoffnung. Die Hoffnung auf eine Familie. Die Hoffnung auf ein besseres Heim. Die Hoffnung auf warmes Wasser, wenn Tracy nicht da war. Und auch diese Hoffnung war es, die der Grund war, warum ich unbedingt wissen musste, ob er noch Interesse daran hatte, mit mir zum Ball zu gehen. Diese Hoffnung war alles, was ich noch hatte und ich würde mich an sie klammern, wie an den letzten Strohhalm, der mich am Leben ließ.

Doch wenn ich ihn jetzt nach dem Ball fragen würde, dann wäre diese Hoffnung zerstört. Und egal wie dumm es von mir zu sein schien. Ich wollte, ich brauchte die Illusion davon, dass es sein könnte. Dass es mich und Anthony geben könnte.

Ein kleiner Stupser riss mich aus meinen Gedanken.

„Alles okay?", flüsterte Anthony. Er hatte den Kopf geneigt und war etwas nach unten gebeugt, als er mein Gesicht besorgt musterte. „Du bist so still. Ist etwas nicht in Ordnung?"

Ich wandte kurz den Blick ab. Auch, wenn es schwer war, so riss ich mich aus dem Bann seines durchdringenden Blicks und musterte die Deckenbemalung. Erst, als ich seine Hand auf meinem Arm und die leichte Bewegung seines Daumens spürte, als ob er sich nicht trauen würde...oder als ob er denken würde, ich könnte zerbrechen, sah ich ihn wieder an. Seine Mundwinkel hoben sich leicht und es war kein Lächeln, es war nicht sein übliches Strahlen. Es war der besorgte Versuch, etwas in mir zu regen und das Angebot, ihm vertrauen zu können. Und das bedeutete so viel mehr als jedes Lachen, das er mir bis jetzt geschenkt hatte.

„Ich...", meine Stimme war viel zu leise. Viel zu brüchig. Viel zu verdächtig. „Ich...vielleicht..."

Anthonys rote Haare wippten im Gehen und einige Strähnen fielen ihm ins Gesicht, als er abrupt stehenblieb.

„Alice", sagte er bestimmt, ließ meinen Arm jedoch nicht los. „Wenn es dir nicht gut genug geht, um..."

„Nein", widersprach ich. „Das ist es nicht"

Für einen Moment war ich versucht, einfach die Karten auf den Tisch zu legen. Für einen Moment hatte ich das perfekte Szenario im Kopf.

Doch das hatte ich bereits schon so oft. Und nie hat sich die Realität analog zu meinem ausgedachten Skript verhalten. Und das würde sie auch diesmal nicht.

Nur noch ein paar Tage, sagte ich mir.

Ich wusste, dass ich mir damit nur selbst schaden würde. Ich wusste, dass der Schmerz, der mich in ein paar Tagen erwarten würde wahrscheinlich schlimmer war, als der, den ich jetzt erfahren würde. Aber ich wollte das noch nicht. Ich konnte mich nicht schon wieder dem stellen.

School of ElementsWhere stories live. Discover now