5 - Höhenflug

7K 432 14
                                    


Die letzten Tage waren eine Katastrophe gewesen. Meine Stimmung schwankte von himmelhochjauchzend und zutiefst betrübt. Es gab Momente, in welchen ich mir wie ein absoluter Vollidiot vorkam, weil ich den Worten in dem Brief Glauben schenkte und in anderen Augenblicken war ich so glücklich, dass ich eine Chance bekommen hatte. Es war schrecklich und als endlich der Tag gekommen war, auf den ich seit dem Eintreffen des Papierfliegers hinfieberte, wusste ich nicht, ob es nicht vielleicht doch besser gewesen wäre, ich hätte den Brief nie erhalten.

Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Jetzt saß ich auf meinem alten Bett, meinen Rucksack neben mir. Viel hatte ich nicht zu packen. Immerhin besaß ich nur wenig Kleidung. Persönliche Gegenstände hatte ich kaum. Und obwohl ich vielleicht voller Vorfreude sein sollte, war ich verunsichert. Was würde passieren? Würde überhaupt etwas passieren? Wer würde mich abholen? Sollte ich irgendwo hingehen? Oder würde man einfach an der Tür des Heims klopfen und versuchen, Tracy zu erklären, dass ich nun lernen würde, mein Element zu beherrschen? Es war alles so irrsinnig, es war so surreal und trotzdem klammerte ich mich an die Hoffnung, dass jemand auftauchen würde. Jemand, der mich anlächelte, jemand, der mich mitnahm. Mitnahm in ein neues Leben.

Aber es kam niemand. Ich hatte keine Uhr und leider auch keinerlei Zeitgefühl. Aber es kam mir vor, als würde ich schon seit Ewigkeiten warten. Immer wieder lief ich zum Fenster und starrte hinaus auf den Hof, hielt die Eingangstür zum Waisenhaus im Blick. Aber kein Auto hielt, alle fuhren vorbei. Niemand lief durch den kleinen Hof und blieb vor der hölzernen Tür stehen. Niemand. Nichts passierte. Und je mehr Zeit verstrich, desto panischer lief ich auf und ab, schaute immer wieder aus dem Fenster und versuchte, der Unsicherheit in mir keine Chance zu geben. Aber irgendwann versiegte auch meine Hoffnung und der Teil von mir, der nie daran geglaubt hat, dass auch nur eine Kleinigkeit aus dem Brief stimmen konnte, verhöhnte mich. Wie konnte ich sowas auch nur glauben? Es war sicherlich ein Scherz von den anderen Kindern gewesen, die sich jetzt daran ergötzten, dass ich nicht mit ihnen unten beim Mittagessen saß, sondern auf etwas wartete, was niemals passieren würde.

Ich kickte meinen Rucksack wütend vom Bett und unterdrückte einen Frustschrei. Dann legte ich mich auf die fleckige Decke und schloss die Augen. Ich versuchte zu akzeptieren, dass mein Leben so bleiben würde, wie es schon immer war. Ich versuchte, einzusehen, dass nicht einfach ein Papierflieger in mein Leben geschossen kommen konnte und auf einmal war alles gut. So funktionierte das Leben nicht.

Doch als ich die Augen öffnete, war etwas anders. Die kleine Glühbirne, die von der Decke baumelte versuchte ihr Bestes, die plötzliche Düsterheit zu vertreiben, aber es war vergeblich. Es war schlagartig dunkler geworden und erst als ich zum Fenster sah, merkte ich, was der Grund dafür war. Ich sah nun nicht mehr die gegenüberliegenden Häuser, den Hof und die Autos, die dazwischen umherfuhren, nein. Ich sah etwas anderes und als ich endlich erkennen konnte, was es war, fiel mir die Kinnlade herunter.

Ich sprang auf, lief zum Fenster und riss es auf.

Der Heißluftballon machte direkt vor meinem Fenster Halt und erst als ich die Kirchglocken läuten hörte, wachte ich aus meiner Schockstarre auf.

Es war Mittag. Es war zwölf Uhr Mittag. Und das vor mir war nichts Geringeres als meine Mitfahrgelegenheit in die SoE. In die School of Elements. In meine neue Schule. In mein neues Leben.

-

Es störte mich nicht, dass ich allein in dem Korb des Heißluftballons stand und auf die kleine Stadt unter mir blickte. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie man ein solches Gefährt bediente, aber scheinbar schien der Ballon ganz genau zu wissen, wo er mich hinbringen sollte. Ohne auch nur einen Handgriff getan zu haben, hatte er sich in die Lüfte erhoben, als ich in den Korb geklettert bin.

Es war faszinierend, wie schnell das Heim, Tracy und alle anderen Kinder darin, aus meinem Sichtfeld verschwanden. Verschwanden aus meinem Blickfeld und somit auch aus meinem Leben. Die Winterluft war in Kombination mit der Wärme des Heißluftballons erstaunlich angenehm und ich beugte mich aus dem Korb. Der Heißluftballon war eindeutig kleiner als die Exemplare, die ich bereits aus der Ferne betrachten konnte. Wahrscheinlich, weil er nur für eine Person gedacht war. Für mich.

Die Landschaft zog an mir vorbei und als meine Heimatstadt schon lange hinter mir lag und sich die Berge vor mir auftaten erhob sich der Heißluftballon auch, als wäre er von Geisterhand gesteuert. Es war ein unglaubliches Gefühl, die Berge zu überfliegen, den Menschen weit unter mir zurückzuwinken und in die Ferne zu blicken.

Ich konnte nicht einschätzen, wie lange die Reise bereits dauerte und ich hatte auch nicht den geringsten Schimmer, wo mich der Ballon hinbrachte. Wo war diese Schule? Ich konnte es nicht sagen. Am anderen Ende des Landes? Gleich hinter den Bergen? Ich hatte so viele Fragen und niemanden, der sie mir beantworten konnte.

Und dann tat sich vor mir ein unglaublicher Anblick auf.

Das Meer.

Ich hatte das Meer noch nie gesehen. Ich war noch nie am Strand gestanden und ich hatte noch nie die Wellen sehen dürfen. Ich wusste nicht, wie sich Meeresrauschen anhörte und ich wusste nicht, wie das Salzwasser schmeckte. Es war überwältigend, die großen Wassermassen zu sehen, wie sie still dalagen und ab und zu unter den Strahlen der Sonne glitzerten. Selbst wenn diese ganze Aktion der reinste Reinfall war, dann war es doch wert gewesen. Ich durfte das Meer sehen. Das war mehr, als ich jemals zu wünschen gewagt hatte.

Ich ertappte mich, wie ich breit grinsend in die Ferne hinausstarrte. Es war unglaublich. Es war einfach unglaublich und ein Teil von mir fürchtete, dass ich gleich aus einem wunderschönen Traum aufwachen würde. Und der andere Teil hoffte, dass es kein Traum war.

Ein spitzer Schrei.

Es dauerte einen Sekundenbruchteil, bis ich kapiert hatte, wer geschrien hatte.

Ich.

Das Gefühl hatte sich wieder in mir breitgemacht, hatte mich wieder eingenommen und ich konnte nicht in geringster Weise beschreiben, wie schrecklich hilflos ich mich wieder fühlen musste. Ich konnte regelrecht spüren, wie es sich an mir festklammerte und mir die Luft abschnürte. Es ist mittlerweile so oft passiert. Doch jedes Mal war es so schlimm, als ob ich es zum ersten Mal erleben würde.

Ich klammerte mich am Korb des Heißluftballons fest und versuchte, meine Atmung zu kontrollieren. Doch es ging nicht. Es kam mir vor, als wäre es dieses Mal intensiver, schlimmer als jedes Mal davor. Aber wahrscheinlich dachte ich das immer.

Ich konnte das Monster diesmal nicht zurückhalten, das wusste ich. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass ich dieses Mal zu schwach sein würde, dass es mich dieses Mal zu sehr überrumpelt hatte und dass es dieses Mal zu stark war. Ich wusste es und ich versuchte mich ein letztes Mal, mich gegen das schlimme Gefühl, das in mir wütete aufzulehnen, doch es klappte nicht.

Es wütete, es zerstörte, es machte mich kaputt, es zerfraß mich. Von innen heraus und ich konnte nichts dagegen tun. Ich konnte nur nach unten in das tiefblaue Meer sehen, ich konnte nur die Hitze des Ballons spüren. Ich konnte nur tatenlos neben mir selbst stehen und dabei zusehen, wie mich etwas kaputt machte, von dem ich nicht einmal wusste, was es war.

Es war ein Alptraum. Es war der schlimmste Alptraum inmitten meines allerschönsten Traumes.

Es war schrecklich.

Und als wäre das nicht genug gewesen, nein. Ich bekam gerade noch ein Stöhnen aus meiner ausgetrockneten Kehle und verbrauchte damit wohl das letzte bisschen Luft, das ich noch übrig hatte, bevor es sich vollkommen um meine Atemwege krallte. Ich konnte nur noch sehen, wie das Meer Stück für Stück, langsam aber doch irgendwie viel zu schnell näher kam. Ich konnte nur noch sehen, wie das Feuer des Heißluftballons plötzlich gelöscht war, als ob es nie gebrannt hätte. Ich realisierte nicht, mit welcher Geschwindigkeit der Ballon auf das offene Meer zustürzte. Ich merkte nicht, dass dort der sichere Tod auf mich wartete.

Denn in diesem Moment wurde es schwarz vor meinen Augen.


School of ElementsWhere stories live. Discover now