* Erste Wahrheit *

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Nachdem ich kurz überlegte, dann aber doch handeln musste, rannte ich zum Fenster. Aber warum tat ich das? Um meinen Bruder in seinem Job zu schützen oder war Lukas doch für mich irgendwie interessant? Darüber hatte ich in dem Moment keine Zeit mehr zu überlegen.
Ich drehte den Fensteröffner rum und brüllte laut seinen Namen. Die ganzen Nachbarn müssen gedacht haben, ich rufe nach einem Hund, der mir weggerrant wäre. Wobei ob die Nachbar überhaupt meine Stimme kannten? Es waren so viel neue Leute in unsere Gegend gezogen, die man höchstens morgens und abends nach ihrem Arbeitstag sah. Die Welt war einfach sehr unpersönlich geworden, doch ich hatte auch keine Lust auf diese spießigen Leute, die mittlerweile hier lebten.

Lukas schaute zu mir ans Fenster und es schien, als würde er auf irgendetwas warten. Doch lange musste er das nicht.
"Komm wieder zurück!", sagte ich nun leise und man sah an seinem Oberkörper ganz deutlich, dass er tief durchatmete und er schien zu überlegen, ob er sich das nochmal antut. Doch schlussendlich tat er es tatsächlich und watschelte langsam wieder zu meiner Haustür.
Wieder sprangen meine Gedanken im Dreieck, als ich mich auch auf zur Tür machte. Ich entschloss mich dazu ihn nicht alles zu erzählen, das konnte ich auch nicht. Ganz einfach weil ich es nicht übers Herz brachte. Und wie ich es schon oft sagte, ich konnte einfach nicht darüber reden.
Wieder puhlte er sich aus seinen Schuhen und legte sie ordentlich in den Schuhschrank. Selbst ich tat das nie. Entweder war es nur, weil er irgendwo zu Besuch war, oder, weil ich es heute besser weiß, er ist tatsächlich so ein ordnungsliebender Mensch.
Wieder setzte er sich auf meine Couchseite und schaute mich erwartungsvoll an. Ohne weiter nachzudenken fing ich an zu reden...
"Lukas, ich kann darüber nicht reden, ich bin ein gebrochenes Etwas. Wenn wir uns besser kennen, vielleicht, aber heute nicht. Ich sag dir nur so viel...
Mit zwölf habe ich meine Eltern verloren, da war Tom 18. Es war nicht leicht für uns, trotzdem stand er immer zu mir. Zwischen uns ist ein wahnsinnig dickes, durchsichtiges Band und deswegen wohnen wir zusammen. Es mag ungewöhnlich sein, doch für uns normal. Wir bauen uns auf, er versteht mich und das ist das, was zählt. Mit 20 und 22 habe ich die nächsten Schicksalsschläge gehabt, aber das ist noch zu frisch, um darüber zu reden. Akzeptiere jetzt meine Erklärung oder nicht."

Wieder ließ er sich in die Lehne fallen und nickte nur.
"Wie soll ich dich dann behandeln, wenn du abwesend bist?", fragte er und ehrlich gesagt, wusste ich keine Antwort. Ich musste ja nie auf mich selber einreden, wenn ich nicht da war.
"Keine Ahnung, musst du Tom Fragen...", sagte ich dann trocken und irgendwie brachte meine Art und Weise, wie ich es sagte, Lukas zum grinsen.
"Du bist schon ne komische Tante...", sagte er schließlich breit grinsend und steckte mich damit an.
Irgendwie hatte er was an sich, was mich immer mit in seinen Bann riss. Es war ein komisches Gefühl, immer wenn er in meiner Nähe war, auch wenn wir uns erst zum zweiten Mal so richtig unterhielten.
Um Gottes Willen, es ist nicht das, was jetzt alle denken würden. Es war keine Liebe, dieses Gefühl, nein, wie sich Verliebtheit anfühlte wusste ich, doch das hier war irgendwie anders. Es ist echt schwer zu erklären, was damals in mir vorging.
Wir hatten nun beide unsere Standpunkte erklärt und auch mein Kopf schien wieder einiger Maßen frei zu sein. Vielleicht war es doch gut, sich Dinge von der Seele zu reden, anstatt alles in sich hinein zu fressen. Diese ganze Situation brachte mich im Nachhinein zum Nachdenken, aber erst nachdem Lukas die Heimfahrt angetreten hatte. Nocheinmal mit Abwesenheit, konnte ich ihn nicht nerven.
Das klingt jetzt vielleicht etwas überheblich, aber ich lerne Sachen ziemlich schnell und was Lukas mir an diesem Abend beibrachte, half mir echt weiter. Durch dieses kleine Streitgespräch, brachte er mich dazu, mehr mit Leuten zu reden, wieder mal anderen zuzuhören und den Rest der Welt zu vergessen, wenn jemand anderes redete. Einen Moment meine Gedanken zu vergessen und auch mal für andere da sein.
Wie konnte er das nur so schnell schaffen, was mein Bruder schon Ewigkeiten probierte? Und die nächste Frage war ja, wie lange würde ich es so aushalten? Ich war ja nicht sehr ausdauernd, was sowas betraf, da ich mich immer wieder ins Selbstmitleid fallen ließ.
Doch die Ausdauer musste ich jetzt erlernen und schon bald bot sich mir die Möglichkeit auszuprobieren, ob ich das erlernte umsetzen könnte, denn plötzlich kam Lukas auf eine Idee, bzw. eine Einladung, die ihr nie angenommen hätte, aber durch meine Euphorie, die ich gerade hatte, sagte ich zu. Folgendes Gespräch fand vor meiner Zusage statt:

"Weißt du was? Ich lade dich und Tom nächste Woche zu unserem Trailerpark Umtrunk ein. Wir machen schon noch ein richtiges Trailerparkgirlie aus dir..."

"Ein was? Was ist Trailerpark? Ich gehe doch nicht mitten im Winter auf einen Campingplatz zum saufen..."

Lukas musste herzlich lachen und ich war wirklich ahnungslos. Ich hatte mich noch nicht weiter mit Lukas oder seinen Freunden befasst. Lediglich seine Songs, die er auf den Konzerten spielte, kannte ich und der Rest war mir ein großes Fragezeichen. Ich war über seinen Lachflash ziemlich irritiert. Hatte ich was falsches gesagt? War ein Trailerpark nicht ein Wohnmobil-Park? Ich riss meine Augen auf und schaute ihn fragend an. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte und erklärte mir dann alles.
"Weißt du eigentlich, dass du ungewollt lustig bist? Echt köstlich... Naja Trailerpark ist unsere Band mit Tim, Steven und Basti, die du auch schon kennengelernt hast. Die mögen vielleicht etwas grob rüber kommen, aber eigentlich sind sie ganz harmlos..."
Naja den Rest der Antwort von mir kennt ihr ja schon. Ich sagte zu, was auch immer noch dazu geritten hatte. Aber schaden konnte es ja nicht.
Auch Tom sagte per SMS zu, als ich ihm den Vorschlag unterbreitete. Das hieß auf jeden Fall, dass er bald zurück kommen würde, was mich sehr freute.
Den Rest des Tages verbrachten wir nicht mehr damit über Arbeit oder Schnittmuster zu diskutieren, sondern lernten uns wirklich näher kennen und das Vertrauen zu Lukas war aufgebaut. Ich kannte sein Lieblingsessen, seine Lieblingslieder und ja, sogar seine Kindheit und lustige Storys kannte ich jetzt. Es war einfach schön mit jemand anderen zu reden, als mit Tom.

Dann stand er einfach so da... (Alligatoah Fan-Fiction)Where stories live. Discover now