* Scharfer Gegenstand *

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Das Leben hatte mich also wieder - wenn auch nur so halbwegs. Raus ging ich trotzdem nur ungern, aber ich hatte nun also einen neuen Lebensinhalt gefunden - das Nähen.

Ich weiß noch ganz genau, dass es ein kalter, regnerischer Herbsttag war, die Blätter fielen von den Bäumen und zierten die Wiesen in bunten Farben. Ich saß auf meinem Stammplatz auf dem Sofa, welches schon eine deutliche Mulde abzeichnete, weil ich wirklich immer nur an dem einen Fleck saß.
Tom war einkaufen und ich nähte wieder irgendwelche Dinge, die dann zu den anderen in den Schrank kamen. Keiner würde die Sachen je anziehen, Hauptsache ich hatte eine Beschäftigung.
An Arbeit, oder Kontakt mit Kunden oder anderen Menschen, war nicht zu denken. Mein Bruder hielt mich schon irgendwie aus. Es hat ja immer geklappt. Im Nachhinein betrachtet war das vielleicht die falsche Einstellung. Zum einen ist sie sehr Egoistisch und zum anderen hätten mir Menschen, nach meinen Schicksalsschlägen vielleicht gut getan, doch der Zug war abgefahren. Zu lange habe ich mich verschanzt. Vielleicht war ich auch kein bisschen mehr sozial. Dennoch nahm ich mir vor, mich wieder ins Leben zurück zu kämpfen und wenn es sein muss, wollte ich mich sogar dazu zwingen, Menschen zu treffen oder zumindest erst einmal unter sie zu gehen.

Ich war wieder am nähen, als mein Bruder breit grinsend in das Wohnzimmer kam.
"Was ist denn los?", fragte ich und als hätte er nur auf diese Frage gewartet, kam er zu mir rüber und ohne Vorwarnung, umarmte er mich. Es fühlte sich so an, als wollte er seinen Griff nie wieder lockern.
Ich klopfte ihm sanft auf den Rücken und fragte wieder, was passiert sei.
Endlich lockerte er seinen Griff, hielt mich an den Schultern fest, schaute mir in die Augen und meinte: "Ich hab den Job... ICH HAB DEN JOB!"
Spätestens jetzt wurde mein Grinsen auch größer und ich strahlte ihn an, während seine Augen glizernden, als wäre er frisch verliebt.
Ich wusste, wie sehr er genau diesen Job haben wollte. Schon die Bewerbung war damals ein Akt. Tom hatte ein super Bewerbungsschreiben, doch das war ihm noch nicht genug. Er bastelte einige Stunden daran, um es noch interessanter zu gestalten und das scheinbar mit Erfolg.
Aber sind wir mal ehrlich, hätte ich ihm nicht den Knopf an die Hose genäht, wäre das nie etwas geworden... Spaß!
Kurzum mein Bruder war nun "Konzert-Dirigent", wie ich es liebevoll nannte. Er würde immer mit auf irgendwelche Touren gehen und alles organisieren und planen, damit es den Künstlern an nichts fehlt und alles sorgenfrei von statten geht.
Nachdem ich alles realisiert hatte, spinnte mein Kopf sich aber schon wieder etwas zusammen und ich wurde wieder unsicherer.

"Tom, wir müssen reden. Mir liegt was auf der Seele..."

"Was los?"

"Wenn du den Job jetzt hast, bis du doch kaum noch zu Hause, oder?"

Sein Blick versteinerte. Ich wusste, dass das ein Thema war, welches er ungern ansprechen wollte, doch nun hatte ich es getan und meine Trübsseligkeit ging von vorne los.
Was sollte ich nur alleine machen? Ich war doch zum alleine leben zu unfähig. Auch meine Motivation, endlich wieder Fuß zu fassen, war dahin, als mit bewusst wurde, dass ich damit bald alleine stehen würde.

"Lilly... Das kriegen wir hin. Du kannst bestimmt auch mit kommen, wenn du magst.", sagte Tom, als er sich neben mich setzte und seinen Arm um mich legte.

"Ach... Ich weiß nicht so Recht..."

"Lilly, komm endlich aus deinem Schneckenhaus raus. Ich weiß, dass schlimme Dinge passiert sind, aber Jo hätte nicht gewollt, dass du dich so gehen lässt..."

Er hatte Recht, dass wusste ich auch, trotzdem waren es Worte, die ich nicht gerne hörte.
Wer Jo war?
Jo, besser gesagt Johannes, war mein Verlobter, aber was genau mit ihm passierte, kann ich nicht sagen. Es nährt sich ein gewisser Jahrestag und da kann ich nicht darüber reden. Irgendwann werdet auch ihr hier erfahren, was damals passierte.

Nachdem das Tom so aussprach, brach ich wieder in Tränen aus. Noch nie hat er so klare Worte zu mir gesagt. Es tat weh. Ich verschanzte mich im Bad und weinte um mein Leben. Die Wunden rissen jedes mal auf, wenn ich Jo hörte.
Vielleicht dachte sich Tom aber auch, dass die Konfrontation mit dem Namen, mir irgendwann leichter fallen würde, aber da täuschte er sich.
Mit warmen Worten versuchte er mich wieder aus dem Bad zu holen, doch ohne Erfolg. Ich saß auf dem Boden und der Schmerz hing in mir. Viele Tränen tropften auf mein Shirt und hinterließen dunkle Umrisse.
Nach einiger Zeit war auch ich Tränen leer und kämpfte mich vom Boden hinauf und schaute in den Spiegel.
Das Mädchen, was mich aus dem Spiegel anschaute, war nicht das selbe, wie noch vor ein paar Jahren.
Damals war sie noch Lebensfroh, auch wenn sie früh ihre Eltern verlor, doch vielleicht war das Alter noch nicht so prägend und ich konnte damit leben, bzw. schnell umgehen.
Und jetzt, wer schaute mich jetzt aus dem Spiegel an? Eine 23 jährige verbitterte Frau mit eingefallen Gesicht und wenig Spaß am Leben. Plötzlich fragte ich mich zum ersten Mal, ob es noch sinnvoll ist, überhaupt zu leben. Da waren sie, meine ersten Suizidgedanken, die allerdings nicht lange blieben. Denn die Wut über meine negative Veränderung überkam mich.
Die Haarbürsten, die vorm Spiegel lagen, schmiss ich wutentbrannt von der Ablage. Ich schlug in den Spiegel, weil ich die Frau hasste, die mir entgegen guckte. Meine Hand blutete und das Gesicht, was mit trostlos entgegen blickte, war nun von Rissen im Glas geziert. Ich spürte keinen Schmerz.
Die sieben Jahre Pech bei einem zerbrochenen Spiegel waren mir egal.
Mein Leben war eh schon ein Scherbenhaufen und in Pech ertränkt.
Wieder sackte ich zusammen und lag nun auf dem kalten Fliesenboden. Plötzlich waren sie wieder da, die Tränen. Mein Körper hatte welche nachproduziert.
Das klopfen von Tom an der Badezimmertür, klang für mich nur noch wie ein nerviger monotoner Ton, den ich bald schon nicht mehr wahrnahm. Er schaffte er einfach nicht, die Tür einzurammen, auch wenn er es gerne wollte.
Nachdem ich wieder etwas Kraft geschöpft hatte, raffte ich mich wieder auf und schaute wieder in das zersplitterte Gesicht im Spiegel. Der Hass war immer noch da. Mein Blick wandte sich nach rechts und da lag sie.
Das scharfe Etwas, mit dem man viel Unfug bauen konnte. Ich nahm es in die Hand, schaute mich ein weiteres Mal an und dann passiert es...

Dann stand er einfach so da... (Alligatoah Fan-Fiction)Where stories live. Discover now