* Ich und die Nadel *

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Alles begann damit, dass ich mich nach meinen Erlebten immer weiter zurück zog und mit niemanden sprechen wollte. Das war vor gut sechs Jahren, da war ich 23 Jahre alt.
Mein Drama war da auch schon wieder ein Jahr her und seitdem habe ich mich verschanzt. Ich saß den ganzen Tag auf dem Sofa und starrte in der Gegend rum, ich kannte jede einzelne Macke der Tapete in und auswendig. Einen Sinn, wieder raus zu gehen, was zu erleben, hatte ich nicht. Doch komischerweise war ich nie suizidgefährdet, obwohl es mir so dreckig ging. Vielleicht lag es auch daran, dass ich innerlich leer war und selbst der Gang auf Toilette, war mir teilweise zu viel und einfach nur nervig. Also hätte ich auch zu wenig Motivation gefunden, mich irgendwo hinunter zu werfen oder Tabletten einzuschmeißen. Im Nachhinein betrachtet ist das auch gut so, denn wer weiß, ob ich heute dann noch hier wäre.
Viele fragen sich bestimmt, wie ich so alleine überleben konnte, denn Lust auf einkaufen war bestimmt auch nicht da. Auch da kann ich meinem Bruder nur ein großes Lob aussprechen. Liebevoll kümmerte er sich um mich und auch wenn es ihn nervte, dass ich mich so gehen ließ, war er immer da und hatte immer ein gutes Wort für mich parat. Er kochte mir Essen und motivierte mich Tag für Tag, wenigstens ein Brot oder einen Teller Nudeln zu mir zu nehmen. Auch da muss ich sagen, dass ich mit Sicherheit nicht so viel Geduld mit mir gebracht hätte.
Ihn habe ich also einiges zu verdanken. So etwas ist alles nicht mehr gut zu machen, mit großzügigen Geschenken oder der gleichen. Doch wenn er ruft, bin ich sofort zur Stelle. Auch wenn er nun knapp 200 Kilometer entfernt wohnt und er bräuchte Salz, wäre ich die letzte die sagen würde, dass er es am nächsten Tag kaufen soll. Ich würde mich ins Auto schmeißen und losfahren und ihm seine paar Gramm für das Nudelwasser bringen.
Unsere Geschwisterliebe ist unantastbar.

Auf jeden Fall kam Tom eines Tages zu mir und noch nie hatte er irgendetwas gewollt, doch plötzlich änderte sich das.
Ich weiß nicht, wie er plötzlich darauf kam, dass ich ihn helfe, denn eigentlich kam in meinem Zustand nicht viel dabei raus. Er hatte einen wichtigen Termin - besser gesagt ein Vorstellungsgespräch in einer großen Agentur für Konzerte. Doch seine Hose bot nicht genug Platz für seinen kleinen Bauch, den er wahrscheinlich davon hatte, dass er mein ganzes verschmähtes Essen immer mit verdauen musste. Kurzum der Knopf platzte heraus und er hatte zwei linke Hände, was das Nähen betraf, aber auch nur noch wenig Zeit.
Ich weiß nicht, was in mir vorging, doch ich war immer unfähig etwas zu machen, aber plötzlich funktionierte ich. Vielleicht lag es an dem Druck, den Tom ausstrahlte oder seiner Verzweifelung, wie er nebenbei im Schrank nach anderen Hosen wühlte.
Doch während er sich durch einen Berg uralter Hosen grub, die keiner mehr hätte anziehen können, nähte ich ihm den Knopf wieder an.
Er drehte sich zu mir und in seinen Augen sah ich den Stolz, den er hatte. Wahrscheinlich dachte er, dass es nun wieder mit mir bergauf gehen würde, doch das wusste ich nicht, ob ein Faden, eine Nadel und ein Knopf Besserung bringen würden.
Ich weiß noch ganz genau, wie ich ihm künstlich grinsend hinterher starrte, als er zum Auto rannte und sich nocheinmal bei mir bedankte.
Wieso ich künstlich grinste? Mein echtes Lachen gab es nicht mehr. Doch irgendwie wollte ich meinen Bruder motivieren und ich wusste, dass ich das mit einem grinsen tun könnte. Ob nun echt oder nicht, war egal.
Er war schon eine ganze Weile weg und ich saß wieder antriebslos auf dem Sofa und meine Blicke durchquerten den Raum. Viele Teile stammten noch von unseren Eltern, so auch die große Schrankwand, die eh keiner aus dem Raum hätte tragen können. Sie war schon eins mit dem Raum und hatte bestimmt auch einen Abdruck in den Beton des Fußbodens gehauen. Es war ein Ungetüm aus Eiche rustikal.
Große Veränderungen gab es seit unserer Kindheit kaum. Ja - Mal einen neuen TV oder ein neues Bild an der Wand, aber mehr auch nicht. Wahrscheinlich beliesen wir es so, weil wir unterbewusst immer an unsere Eltern erinnert wurden oder wir uns noch nicht richtig abnabeln konnten.

Auf jeden Fall landete irgendwann mein Blick auf dem Tisch, wo immer noch Nadel und Faden lagen. Schon damals in der Schule, war ich die beste im Werken Unterricht und bekam die besten Noten, wenn es um nähen, stopfen, stricken und so weiter ging. Gerne erinnerte ich mich an die ersten Klassen der Grundschule zurück, denn da war das Leben noch in Ordnung. Ich hatte Eltern und den ein oder anderen Streit mit Tom, der aber immer harmlos endete.
Ich nahm die Nadel in die Hand und schaute sie eine Weile an, während ich in Erinnerungen schwelkte.
Plötzlich überkam mich eine Lust, die ich vorher schon lange nicht mehr spürte. Aus meiner Depression heraus, bekam ich plötzlich Lust, wieder einem Handwerk nachzugehen. Ich wusste, wenn ich diese Lust nicht umsetzen würde, würde ich weiterhin auf dem Sofa vor mich hin vegitieren. Also stand ich auf, ging zu meinem Kleiderschrank und holte alte Teile heraus, in die ich schon lange nicht mehr passte.
Ich fing an zu nähen und zu schnippeln und machte aus vier Shirts ein ganz neues. Niemals hätte ich das in der Öffentlichkeit getragen, höchstens zu Hause, wo mich keiner gesehen hätte, aber das war alles egal, denn plötzlich empfand ich dieses Gefühl von Lust, was ich schon lange nicht mehr hatte. Sollte es wirklich bergauf mit mir gehen? Hatte ich mich die ganze Zeit selber runter gezogen? Ich wusste, dass ich im Kopf immer noch einen großen Knacks hatte, trotzdem handelte ich nun wieder und suchte mir Beschäftigungen.
Auch den Blick meines Bruders werde ich nie vergessen, als er plötzlich freudig im Türrahmen stand. Er freute sich einfach über die Tatsache, dass ich endlich wieder etwas zu tun hatte.
Ab dem Tag brachte er mir regelmäßig Stoffe mit, die ich freudig in kleine und große Sachen umnähte.
Dieses erste Shirt habe ich immer noch. Ich hole es raus, wenn es mir schlecht geht, um mir selber klar zu machen, dass es immer wieder bergauf gehen kann, wenn man nur will.
Endlich war ich - Lilly- neu geboren. Doch was sollte ich aus meinem Talent machen? Das alles wusste ich noch nicht, dennoch empfand ich endlich wieder Spaß und das war die Hauptsache.

Im Nachhinein betrachtet, war die Knopfaktion meines Bruders der erste Schritt ins neue Leben. Oder war es doch mein eigenes Verdanken, da ich ihm immer so viel Essen übrig gelassen hab? Ich glaube wir haben beide unseren Anteil daran...

Dann stand er einfach so da... (Alligatoah Fan-Fiction)Where stories live. Discover now