28 - Monsieur Leclerc

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•Einige Wochen später •

Wenn man so viele Rückschläge erhielt wie ich, dann war es durchaus legitim sich selbst zu hinterfragen. Warum ich? Warum so? Warum überhaupt? Im Grunde war ich ein Opfer geworden und konnte nichts daran ändern. Ich wisste nicht einmal was das alles war, aber dass ich überwiesen wurde, machte es nicht gerade leichter für mich.
Antoine's Einladung hatte ich abgelehnt. Statt seiner hielt ich im Moment die Hand meiner Freundin Iréne.
Dass mein Handy nun zum fünften Mal summte, versuchte ich möglichst zu verdrängen, damit ich nicht daran denken musste ihn so abgewiesen zu haben.
„Willst du nicht wenigstens ein einziges Mal rangehen? Er macht sich bestimmt Sorgen", sprach mir Iréne gut zu, die sich in letzter Zeit meine Erzählungen über Russland zehnmal angehört hatte. Sie fand das alles unheimlich romantisch und wundervoll, wohingegen ich nur pure Angst verspürte.
„Nein, ich..."
Wieder leuchtete mein Bildschirm auf und zeigte groß den Namen Grizou an. Jedes Mal wenn ich ihm nicht antwortete, fühlte ich mich wie der schlechteste Mensch der Welt.
Gemeinsam mit meinen Eltern hatte ich die Feierlichkeiten im Fernsehen verfolgt, sah sie alle glücklich herumhüpfen und fühlte mich wahnsinnig gut zu wissen, dass ich ein Teil davon war. Manchmal suchte mich sogar so eine Art Melancholie heim, weshalb ich dann Momente von Russland im Atelier aufzeichnete und stundenlang ansah. Das saß zum Teil alles tief in meinem Kopf fest.
„Geh ran, Julie." Iréne hielt mir mein Handy vor die Nase, weshalb ich zögerlich ihre Hand losließ und es an mich nahm.
„Hi", brachte ich kaum verständlich heraus. Komplett überrascht hörte ich ein Husten und ein lautes: „Julie endlich!"
„Salut."
„Ich hab mir schon Sorgen gemacht, weil du dich gar nicht mehr gemeldet hast", plapperte er drauf los.
Ich musste schlucken. Er wirkte so glücklich auf mich.
„Im Laden haben sie mir erklärt, dass die rosa Rose bedeutete, dass..."
Er brach ab und sprach kurz auf Spanisch, was mich darauf schließen ließ, dass er bei Mía und seiner Exfreundin war.
„Die rosa Rose steht für eine entfachte Liebe", murmelte ich in den Hörer. Auch ich hatte die Bedeutung der Farbe gegooglet. Nicht, weil ich davon ausgegangen war, er hätte nach einer Bedeutung gesucht, nein, eher weil ich mir Dinge damit einreden wollte.
„Ja, eine schöne Bedeutung, findest du nicht?"
„Sehr schön ja..."
Ich war viel zu eingenommen von meinen Gedanken und Ängsten, dass ich sein aufgeregtes Geplapper nicht hören wollte.
„Ist etwas? Du bist so abweisend. Ständig drückst du mich weg und meine Einladungen hast du auch abgelehnt", stellte er fest.
„Nein, ist alles gut. Bin gerade etwas im Stress, pardon."
„Oh. Okay, dann störe ich nicht weiter. Schaust du heute meinen Besuch in Mâcon an?" wollte er wissen.
„Ich denke schon. Tut mir leid ich muss jetzt aufhören, Antoine", murmelte ich, legte noch vor seiner Antwort auf und starrte geistesabwesend auf den Bildschirm.
„Das war ja wirklich sehr liebevoll", scherzte Iréne, die versuchte mir damit die Angst zu nehmen, aber es klappte kein bisschen.
„Madame Margant?" wurde ich aufgerufen und erschrak.
„Es ist bestimmt alles okay, viel Glück", wünschte mir meine beste Freundin seit Kindheitstagen und drückte meine rechte Hand einmal feste mit ihren beiden.
Ich schluckte noch einmal schwer und folgte der Schwester ins Zimmer des Arztes.

„Sie wurden also von ihrem Orthopäden zu mir verwiesen?" hakte Monsieur Leclerc nach, der meine Krankenakte durchgelesen hatte und mich nun musterte. Vor lauter Angst war ich mittlerweile schon richtig kurzatmig geworden.
„Ja", brachte ich heraus.
„Wie lange haben sie die Beschwerden mit ihrer Hand nun schon?" wollte er wissen.
„Welche genau?" fragte ich. „Ich hatte mehrere."
„Mehrere?" Monsieur Leclerc stützte sich am Tisch ab und sah mich abwartend an.
„Vor fünf Wochen konnte ich einmal einen ganz kurzen Augenblick nicht sprechen. Dann folgten zwei Tage Taubheit in meinem linken Ringfinger und am Tag meiner Ankunft in Nizza, konnte meine Hand keinen leichten Gegenstand mehr nehmen. Bis heute." Er notierte alles was ich sagte und nickte dann.
„Sie spüren seit Wochen nichts und gehen von einem eingeklemmten Nerv in der Wirbelsäule aus, Madame?"
Ich fühlte mich von ihm nicht ganz verstanden.
„Ja, Monsieur. Normalerweise war das immer so", stellte ich klar und er kratzte sich am Kinn.
„Okay. Im Grunde muss das nichts bedeuten, verstehen Sie? Das kann jederzeit einmal vorkommen und könnte ein Hinweis auf eine fehlerhafte Nervenbahn sein. Wir werden ein paar Tests mit Ihnen durchführen und alles einmal durchchecken. Die Ergebnisse besprechen wir bei einem neuen Termin dann genauer, ist das für Sie okay, Madame?" Schnell nickte ich.
„Wäre es möglich, dass ich in der Zwischenzeit irgendwohin fliege?"
„Ich hätte ganz gerne, dass sie in nächster Zeit erreichbar wären. Vielleicht müssen Sie spontan zu mir kommen. Es wäre besser, wenn Sie hier bleiben würden."
Na toll, damit machte er meine Pläne Antoine morgen zu Besuchen absolut zunichte. Zudem hatte ich ein Gefühl, dass mir sagte es wäre besser, wenn ich das nicht tat. Wenn ich ihn in Vergessenheit geraten ließ und er sein Kind gemeinsam mit seiner Exfreundin großzog. Das wäre besser.
„Wenn Sie einen Moment noch draußen Platz nehmen, Madame. Sie werden für die Tests jeweils aufgerufen. Solang dürfen sie sich gerne am Wasserspender oder den Zeitschriften bedienen."

Schluckend kämpfte ich mich durch die Zeitscheift Équipe und starrte all diese Bilder an. Bilder der Weltmeisterschaft und Russland. Bilder von den Spielen, vom Pokal, von dem Bus mitsamt Spieler, gefeiert auf der Champs-Elysees.
„Ich würde mir wünschen alles nochmal von vorne zu erleben, dann könnte ich einiges anders machen", seufzte ich und faltete das Magazin zusammen. Mutwillig entriss ich die Seiten meinen Fingern, über die ich aktuell keine Kontrolle hatte, und lächelte Iréne schmerzlich an. Ich würde nicht einiges anders machen, sondern alles. Angefangen bei den Türen und dem Aufeinandertreffen mit Pauline, geendet beim letzten Abend mit dem Team.
„Nein, es ist gut wie es gelaufen ist. Du hast unheimlich liebe Leute kennengelernt und vielleicht einen Partner fürs Leben, wenn du ihm nur eine Chance gibst, Julie", sprach Iréne mir gut zu, doch mir schwirrte nur eins durch den Kopf.
Was, wenn ich Antoine schon früher zeigen hätte können, dass ich ihn mochte?

Julie ~ A.GriezmannWo Geschichten leben. Entdecke jetzt