18 - Nicolas

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Bonsoir meine Lieben,
ich sitze gerade im Zug durch das schöne, netzlose Brandenburg und hoffe, dass das kleine E oben in der Ecke reicht um euch dieses Kapitel für euren Freitagabend zu veröffentlichen.
Heute gehen wir tiefer ins Drama hinein🤓

Habt einen wundervollen Novemberabend,
eure Ladybirdly

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In meinem Zimmer griff ich hastig nach der Kerze, die ich schon seit einer Woche auf meinem Nachtkasten stehen hatte, zog mir eine Sweatshirtjacke an und versteckte meinen Kopf unter der Kapuze. Anschließend schlich ich mich unten an dem Speisesaal vorbei und ging in dem groß angelegten Garten einen langen Spaziergang, welcher mich nur noch mehr daran erinnerte, dass ich unheimlich mieserabel darin war Dinge zu verdrängen. Es war nicht so, als wäre ich nicht schon daran gewöhnt, aber es war jedes Jahr aufs Neue fürchterlich.
Ein Schmerz den Nichts und Niemand verstehen konnte, nicht einmal meine Eltern verstanden das so wie ich.

Nur wenige Meter vom Kraftraum entfernt entdeckte ich eine kleine Bank unter einer alten Weide, die sich perfekt für mich eignete. Zögerlich stellte ich die Kerze am Rande der Holzbank ab, dann suchte ich im Dunklen nach ein paar Blumen, fand jedoch nur Sträucher und versuchte mit ihnen wenigstens einen kleinen Strauß zusammen zu bekommen. Am Ende sah das eher jämmerlich als schön aus. Die Geste zählte.

Dass Antoine mir heute Nachmittag sein Herz ausgeschüttete hatte, machte es für den Moment nicht besonders einfach, vor allem weil ich wirklich andere Gedanken im Kopf schwirren hatte und ich vielleicht selbst jemanden zum reden gebraucht hätte. Aber ich war der neue Therapeut und freute mich auch, dass sie sich mir öffneten.
Als ich die Kerze anzündete schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel und setzte mich daneben. Mit angezogenen Beinen starrte ich auf das Bild auf meinem Handybildschirm, welches ich nach langem Suchen endlich finden konnte. Umso länger ich es ansah, desto mehr bildete sich der Kloß in meinem Hals. Maman hatte recht gehabt: Für einen Moment würde ich alles vergessen. Nur dass es danach noch schlimmer war hatte sie nicht erwähnt.
„Ich vermisse dich", wisperte ich, zeitgleich lief die erste heiße Träne meine Wange hinab, kullerte bis zu meinem Kinn und tropfte auf meine Jeans.
Von hier aus hörte ich, dass alle anderen im Restaurant die Party starten ließen. Ich holte zittrig Luft.
„Ich vermisse dich so unheimlich sehr", flüsterte ich der Kerze zu. Um mich herum konnte man Grillen zirpen hören. Nicht nervig, nein, es rundete eher den Moment ab.
„Weißt du... du hast einen Teil von mir mitgenommen und der Teil ist noch immer so schwer wie ein Stein", fuhr ich fort und wischte eine Träne ab.
Nach dem Foto wischte ich zu dem Video weiter. Es zeigte uns beim Tanzen auf Maman's Geburtstagsfeier, Papa lachte lauthals und meine Tante Inés klatschte selbst im Rollstuhl noch überglücklich. An diesem Tag wusste keiner, dass ihn ein fürchterliches Schicksal ereilen würde.
Dann die Bilder wo er im Krankenhaus lag, zunächst noch glücklich und optimistisch... bis sein Körper aussah, wie der einer Leiche, kaputt und fertig von all der Bestrahlung. Keine Haare, keine Freude, kein Leben. Der Schmerz, den ich bei diesen Bilder empfand breitete sich in meinem Körper aus so wie damals als ich jeden schmerzhaften Atemzug von ihm wahrgenommen hatte. Ich hielt seine Hand bis ich in mir spürte, dass plötzlich etwas weg war. Im ersten Moment wusste ich nicht was das für ein komisches Gefühl sein sollte, nur als ich ihn ansah, wusste ich, dass das der Verlust war. Als würde mein Herz für ein Stück herausgerissen werden. „Bitte nicht", hatte ich gefleht und er nur den Kopf geschüttelt, ein letztes Drücken meiner Hand folgte und er schloss die Augen. Für immer.

Plötzlich wurde ich aus meinen traurigen Gedanken gerissen. Ein Mann, der scheinbar telefonierte spazierte an mir und meiner Kerze mit einigen Metern Entfernung vorbei. Er sprach Spanisch gemischt mit Französisch. Eine komische Kombination. Dann blickte er in meine Richtung, wobei ich versuchte mich möglichst nicht zu bewegen, damit er vielleicht gar nicht bemerkte, dass dort jemand saß. Außerdem wollte ich nicht, dass mich jemand weinen sah.
„Nein, nein, komm nicht her", dachte ich mir, doch er machte immer größere Schritte auf mich zu, sodass ich bald erkennen konnte, dass es sich um Antoine handelte. Telefonierend. Auf einer anderen Sprache.
„Alors Mía, bonne nuit. Que duermas bien cariño", sprach er in sein Handy, das er auf Lautsprecher gestellt hatte.
„Je t'aime Papi", quietschte einer Kinderstimme als Antoine vor mir zum Stehen kam und er noch ein paar Küsse in sein Handy schickte. Nein, ihn wollte ich gerade wirklich nicht sehen. Nicht in meinem Zustand.
„Warum sitzt du hier draußen, Julie?" fragte er leise. Antoine setzte sich einfach zu mir auf die Bank ohne überhaupt zu fragen, ob er das denn sollte. Sollte er nämlich nicht...
„Und vor allem wieso hast du hier eine Kerze?" Er schien belustigt. Hastig wischte ich mir mit den Ärmeln meiner Jacke die Tränen von den Wangen und räusperte mich um den Kloß irgendwie aus meinem Hals zu entfernen, was sich eher anhörte wie ein Hustanfall bei Reizhusten.
„Ich möchte alleine sein", krächzte ich brüchig.
„Ist etwas passiert?" Antoine sprang alarmiert von seinem Platz auf und trat vor mich, weshalb ich schnell meinen Blick abwandte. Ich wollte nicht, dass er meine Tränen sah.
„Julie? Was ist los?" Aus dem Augenwinkel sah ich wie er sich vor mich kniete und mit seiner Hand nach meinem Gesicht griff, anschließend drückte er mich sanft so, dass ich ihn ansehen musste. Ohne ihn wirklich richtig angesehen zu haben, bildete sich der verschwommene Film vor meinen Augen und meine Lippe begann zu beben. Ich hatte diese Gefühle noch nie mit jemanden geteilt.
„Warum bist du hier alleine in der Dunkelheit mit einer Kerze und weinst?" Auch wenn ich Antoine nicht richtig erkennen konnte, hörte ich die Besorgnis in seiner Stimme.
„Nicolas", wisperte ich kaum hörbar.
„Nicolas? Wer ist Nicolas?" Jetzt da die Tränen aus meinen Augen rutschten und heiß meine Wange herabkullerten, erkannte ich, dass er direkt vor mir im Gras kniete, die Hände auf meinen Knien, die sonst so kalten, blauen Augen waren nun warm.
„Antoine ich rede darüber nicht, weil..." Ein Stechen fuhr in mein Herz.
„Doch, doch! Rede mit mir. Ich glaube es ist längst überfällig, dass du mit jemandem sprichst", murmelte er genauso leise wie ich. Schnell wischte ich die Tränen ab und presste meine Hand an meinen Mund um einen lauten Schluchzer zu verhindern. Doch noch bevor ich das konnte, griff er nach meiner Hand, legte sie zwischen seine und drückte sie fest.
„Trauerst du?" Sein Blick war auf die Kerze gerichtet.
„Ich...ich... Es ist schwer."
„Ist Nicolas dein Vater?" fragte er. Schnell schüttelte ich den Kopf.
„Schlimmer. Er war mein Bruder", flüsterte ich und spürte wie ein neuer Schwall Trauer über mich erging. Es drückte wie eine Last von oben auf mich. „Mein Zwilling."
Als ich Antoine in die Augen sah, entdeckte ich Mitleid. Pures Mitleid. Nachdem er mir heute von seiner Schwester erzählt hatte, wusste ich, dass er mich gut verstand.
Mein Gesicht fühlte sich an als würde es platzen. Ich holte tief Luft bevor ich weitersprach: „Nicolas und ich waren Zwillinge. Er war ungefähr vier Minuten älter als ich und hat mich dafür immer ausgelacht. Und als wir einundzwanzig wurden, hatte er die Diagnose Krebs, wir haben alles versucht, wirklich alles..." Ich brach ab, weil ich mit Zittern nicht aufhören konnte. „Heute vor zwei Jahren ist er gestorben", krächzte ich. Ich konnte spüren, dass Antoine das Herz in die Hose rutschte.
„Das ist schrecklich", brachte er heraus.
„Du kannst froh sein, dass Maud noch an Leben ist."
„Bitte erinnere mich nicht daran", nun erhob er sich wieder und platzierte sich seufzend neben mir auf der Bank. Als er seine Arme um mich legte und mich in eine warme Umarmung zog, fühlte ich mich zum ersten Mal gehalten und verstanden. Ein Gefühl breitete sich in mir aus, das Akzeptanz glich und es schaffte es sogar bis zu meinem Herzen. Ich nahm selbst seinen Geruch so tief in mich auf, dass ich nicht einmal dachte noch tiefer in das alles hineinzurutschen wie sonst. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Shirt und ließ die Tränen laufen. Ohne Halt.

Es fühlte sich okay an diesen Schmerz nach außen zu lassen und in Form von Tränen auf dieses blaue Teamshirt fallen zu lassen, das mich tagtäglich an Nicolas erinnerte.
Endlich laut zu schluchzen und zu wissen, dass ich denjenigen nicht in den Schmerz hineinzog wie das sonst jedes Jahr mit meinen Eltern der Fall war. Nur verstanden die beiden nicht, dass ich noch immer weinte wie an jenem Tag.
„Julie?" fragte Antoine leise. „Lass uns nach oben gehen, dann kannst du in Ruhe weinen. Du holst dir noch eine Erkältung so wie du frierst."

Julie ~ A.GriezmannWhere stories live. Discover now