F O R T Y O N E

26 2 1
                                    

F O R T Y O N E | "Amalia! Scheiße, Amalia! Hey! Wach auf! Was haben Sie getan, verdammt! Mali!", ein verzweifeltes Rütteln erschütterte meinen Körper, der sich wund anfühlte, als wäre ich soeben als unsportlicher Mensch einen ganzen Marathon gerannt. Nur langsam konnte ich mich dazu zwingen, die Augen zu öffnen.

"Scheiße mann, du lebst!", mit einem Ruck wurde ich in eine viel zu enge Umarmung gezogen, "Ich dachte, du hast einen Schlaganfall oder so. Verdammt, Mali, tu' das nie wieder!" Vorsichtig half Harry mir hoch auf meine schwachen Beine und stützte mich, als er merkte, dass ich nicht gut stehen konnte.

"Danke für die Sitzung, Katherine.", fauchte er und führte mich ohne weiteres Abwarten aus dem Büro ins Treppenhaus und an die frische Luft. Meine Glieder schmerzten, meine Augen waren schwer. Hinter der nächsten Ecke ließ ich mich kraftlos zu Boden sinken und lehnte mich an die Hauswand hinter mir.

"Was ist passiert?", fragte er mich aufgebracht.

"Sie hat eine meiner Träume oder Visionen oder was auch immer ausgelöst.", murmelte ich schwach.

"Warte, und- du hast die Lösung?", fragte er weiter. Seine Augen waren mit voller Intensivität auf mich gerichtet. Beschämt wendete ich den Blick ab.

"Naja, irgendwas war da schon... Aber ich hab es nicht richtig gesehen. Sie hatte jedenfalls recht, es ist in mir. Ich- hab die 'Lösung'. Was auch immer die Lösung sein soll, Harry. Wieso hab ich immer diese Träume und dieses Extrawissen?", seufzte ich aufgebracht.

"Sei doch froh, ohne dein Extrawissen wären wir damals nicht entkommen. Und du bist wieder mal die Lösung, um sie ein für alle mal zu zerstören. Du bist die Geheimwaffe! Scheiß auf das Warum, wir sollten den einzigen Lichtblick in unserem Leben schätzen und hoffen, dass du nicht an einem dieser Anfälle zu Grunde gehst. Du hattest den epileptischen Anfall oder sowas, ich dachte, du hast einen Schlaganfall! Du... Du bist einfach zu Boden gefallen und dein ganzer Körper hat gezuckt. Ich hab diese komische Frau zusammengeschissen, das hättest du mal sehen sollen. Hellseherin. Löst Epilepsie aus. Ein richtiger Profi in ihrem Fach.", er grunzte sarkastisch.

"Immerhin hat sie irgendwie ihren Zweck erfüllt, also beschwer dich nicht. Ich bin die Geheimwaffe, die zerstört wird, sobald sie aktiviert wird. Ich weiß nicht, ich denke, ich werde nicht lebend aus dieser ganzen Scheiße rauskommen.", murmelte ich. Ich war überrascht von meinen Gedanken, die dachten, dass es vielleicht besser so wäre. Ich war kaputt. Diese ständige Angst, diese Anstrengungen, diese auslaugenden Anfälle. 

Nach allem, was ich erlebt hatte, wusste ich nicht, ob ich lebend aus dieser Sache herauskommen wollte. Nach all den Jahren war alles wieder aufgekommen. Ich fühlte mich, als würde ich nie wieder diese Sicherheit haben können, dass alles gut werden würde. Diese Sicherheit war schon einmal über meinem Kopf zusammengebrochen. 

"Wieso sagst du das so, als würde dich das nicht stören?", fragte Harry. Ich sah zu ihm hoch, wie er stand, und er sah ernstlich besorgt aus.

"Weißt du, Harry, ich weiß nicht mal, ob ich lebend da rauskommen möchte. Wie oft haben wir schon darüber geredet, dass unser Leben verflucht sein muss, damit uns sowas passiert? Der einen Hölle entkommen und in die nächste gefallen. Wird es jemals aufhören? Und wenn ich das überlebe, wo soll ich hin? Ich hab nichts mehr, und ich kann nicht wieder einfach zurückgehen und so tun als wäre nichts. Das will ich auch gar nicht mehr. Der Journalismus ist nicht mein Traumberuf, er war eine Ablenkung. Und Noah ist nicht mein Traummann, er war auch nur ein Ausweg aus meiner Vergangenheit. Und selbst wenn ich mich anders entscheiden würde, würden sie mich alle erst einmal wegsperren. Ich habe nicht wirklich einen verantwortungsbewussten Abgang aus Manchester gemacht, wie du weißt. Auf mich wartet rein gar nichts nach dieser Sache. Würdest du nach all den Jahren, in denen es dir so scheiße ging, nicht die Frage stellen, ob es denn besser wäre, das einfach nicht mehr machen zu müssen?", seufzte ich frustriert. Mein Kopf tat weh und meine Hände zitterten noch immer.

"Nein!", entfuhr es ihm angewidert, "nein, das hab ich mich nie gefragt, und nein, ich stimme dir nicht einmal zu. Es wäre leichter, aber es wäre ein feiges Ende. Wir haben nur dieses eine Leben. Und ich quäle mich lieber durch und mache das beste daraus als mich mit dem Tod zufrieden zu geben, wenn sie da draußen sind. Wir müssen es doch beenden. Deshalb sind wir hier! Das, was hier abgeht, das müssen wir stoppen. Nicht nur für uns, sondern für alle anderen, die in der Zukunft in die Sache hineingeraten werden.", erwiderte er energisch.

"Wer sagt, dass ich ihnen die Genugtuung geben möchte und sterben werde, bevor wir sie ausgeschaltet haben? Aber... Vielleicht ist das der Preis, den wir zahlen müssen, um sie zu vernichten. Mit unserem Leben gegen sie zu kämpfen. Und um ganz ehrlich zu sein, Harry, wäre das für mich ein zufriedenstellender Tod. Dann ist es vorbei und ich hab die ganzen Probleme nicht, mit denen sie uns zurücklassen würden. Es wäre kein feiges Ende, es wäre heroisch."

"Heroisch.", er lachte spöttisch, "ich bin nicht hier, um dich sterben zu lassen, Amalia. Ich hab es schon einmal gesagt, ich bin hier, um genau das zu verhindern. Wir sind zu zweit, und wir schaffen das. Ich werde dich nicht sterben sehen, Mali. Weder heute, noch morgen, noch in zwei Wochen. Du bist die erste und einzige Person, die mir auch nur ansatzweise wichtig geworden ist seit allem, was mir passiert ist. Du bist die einzige, der ich das über meine Eltern verraten und sogar gezeigt hab. Und ich werde nicht auch noch dich sterben sehen, das kannst du vergessen. Du wirst nicht sterben!" Aufgebracht fuhr er sich durch die Locken und drehte sich dann schwer atmend von mir weg.

Ich seufzte leise. "Das sollte nicht heißen, dass ich sterben will, Harry, aber ich fände es nicht mehr schlimm. Ich weiß nicht, was nach dem Ganzen auf mich zukommen soll. Ich habe nichts mehr, ich weiß nicht mal, wo ich hin soll, wo ich sicher wäre, wo mich keine Leute erkennen würden. Was soll ich hiernach tun? In einem verlassenen Haus leben und Ratten essen, weil ich nicht raus kann?", meinte ich niedergeschlagen, "ich hab jetzt schon dauerhafte Schmerzen, und ich weiß einfach nicht mehr, wo das noch enden soll."

"Ein Schritt nach dem anderen, Mali.", murmelte er, "lass uns erst das jetzige Problem lösen, bevor wir uns dem nächsten stellen. Bitte sag das einfach nicht mehr. Sterben ist keine Option. Nicht, solange ich noch hier bin." Er schüttelte den Kopf und sah kurz über die Schulter zu mir rüber, seine Augen waren dunkel. "Wir sollten jetzt zurück ins Hotel." 

Noch bevor ich auf die Beine hätte kommen können, war er schon los gelaufen. Genervt klopfte ich mir die Hose ab, als ich schwerfällig aufgestanden war. Meine Rippe pochte schmerzhaft. "Weißt du, du solltest deine Gefühle auch mal rauslassen, und sie nicht ständig in dich hineinfressen, Harry. Du musst nicht immer auf hart tun, nur weil du ein Kerl bist. Auch Kerle dürfen mal ihre Emotionen zeigen.", rief ich aufgebracht, woraufhin er stehen blieb. Langsam drehte er sich zu mir.

"Was tue ich deiner Meinung nach denn genau? Alles, was du über mich weißt, das weißt nur du. Ich hab dir alles erzählt, nur vor dir hab ich meine Eltern erwähnt. Nur dir hab ich sie dir sogar gezeigt. Nur du weißt verdammt nochmal, was ich die letzten Jahre getan hab und nur dir hab ich gesagt, dass du mir nicht egal bist, weil du die einzige verdammte Person bist, die mir wirklich nicht egal ist! Nur du kennst meine Gefühle und Gedanken und nur du weißt, wie ich mich fühle. Mehr kannst du vor mir nicht erwarten, Amalia. Mehr kann ich dir nicht einmal geben!", fauchte er plötzlich.

"Du rennst trotzdem vor deinen Gefühlen weg. Du sprichst sie an und verdrängst sie wieder, wenn sie dir zu intim werden. Das tut dir nicht gut."

"Ich hab es die letzten acht Jahre so gemacht. Ich werde es nicht einfach so abstellen können, nur weil du mich nach ein paar Wochen zusammen darum bittest. Ich arbeite daran, damit solltest du dich zufrieden stellen können.", und schon hatte er sich umgedreht und stapfte wütend weiter. Mit hängendem Kopf lief ich ihm hinterher. Diesmal wartete er nicht auf mich.

You've reached the end of published parts.

⏰ Last updated: Sep 25, 2020 ⏰

Add this story to your Library to get notified about new parts!

Relapse (H.S.)Where stories live. Discover now