T H I R T Y O N E

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T H I R T Y O N E | "Wohin gehen wir jetzt?", fragte ich schließlich, als wir durch die kleinen Straßen Ashbournes liefen, scheinbar ziellos. Doch Harry schwieg mal wieder, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken einfach stehen zu bleiben und ihn allein weiterlaufen zu lassen, bis er mir sagen würde, was unser jetziger Plan war, doch ich entschied mich dagegen. Immerhin hatte ich ihn heute schon durch ein ziemliches Chaos geschickt, ihn mit meinen Halluzinationen konfrontiert und ihm private Gedanken entlockt, die er sicher schon lange niemandem mehr erzählt hatte.

Ich wollte auch nicht weiter quengeln, weil es wieder zu einer Diskussion oder einem genervten Harry führen würde, und auch ich hatte für den heutigen Tag genug durchgestanden. Ein stummes Seufzen entfuhr mir, mein Blick auf meine unruhigen Finger gerichtet. Was tat ich hier eigentlich?

Ich hatte ohne Kündigung die Stadt verlassen, hatte Noah mit all den Finanzen allein gelassen und hatte selbst meinen Hund verstoßen, nur für dieses Abenteuer mit Harry. Und obwohl es nicht für Harry war, sondern für uns und unser Wohlergehen, zweifelte ich kurz.

Ich war in meiner Heimatstadt. Nur ein paar Straßen weiter lebten meine Eltern, nicht ahnend, dass ich hier war, aber wahrscheinlich schon von sämtlichen Menschen auf mein Verschwinden hingewiesen. Wieder einmal. Nachdem sie vor sieben Jahren dasselbe durchgehen mussten. Nur dass sie jetzt einen Verdacht hegen würden, weswegen. Alle dachten, ich sei verrückt geworden und deswegen abgezischt. Alle dachten, es irrte eine Verrückte in Manchester umher.

Dabei war ich hier, mit der Person, mit der ich es vor ein paar Monaten noch am wenigsten erwartet hätte.

Ich schreckte schnell aus meinen Gedanken, als ich wieder einmal gegen Harrys kräftige Statur lief und ein wenig zurückstolperte. Am Arm hielt er mich fest, bevor ich fallen konnte, aber er sah mich nicht an. Sein Blick war auf das kleine Einfamilienhaus vor ihm gerichtet, seine Augen starrten direkt durch das große Fenster zur Küche hinein.

"Deswegen.", sagte er bloß. Ohne großen Zusammenhang folgte ich seinem Blick und starrte geradewegs auf eine glückliche Familie beim Abendessen. Inzwischen war die Sonne hinter den Dächern der Stadt verschwunden und der Himmel trug nur noch dunkle Töne von pink und blau. Es gab keine Möglichkeit, dass sie uns vor ihrem Fenster erwischen würden.

"Sind das deine Eltern?", fragte ich leise. Ein kurzer Blick zu ihm reichte, um zu sehen, dass er nickte.

"Und meine Schwester. Mann, ist sie groß geworden.", er seufzte, "wie du siehst, sind sie glücklich. Das waren sie damals schon, als ich geflüchtet bin. Und während ich sie alle beobachtet habe, wie sie gelacht haben und Spaß hatten, war für mich klar, dass ich nicht wieder zurück kann. Sie haben sich damit abgefunden, dass ich als tot gelte. Aufzutauchen und alles wieder auf den Kopf zu stellen war für mich gegessen. Das hätte nur alten Schmerz aufleben lassen und einen Haufen Erklärungen, die ich nicht hätte geben können. Genauso wie es dir ergangen ist."

"Aber- Sie hätten sich doch gefreut, dich wiederzusehen. Vielleicht hätten alte Gefühle wieder aufgelebt, aber die Freude wäre größer gewesen. Meinst du nicht?", fragte ich vorsichtig.

"Nein. Du hättest sie sehen sollen. Sie haben mich einfach vergessen. Wäre ich aufgetaucht, hätten sie das nicht verarbeiten können. Sie haben sogar die verdammten Bilder von mir von der verdammten Wand abgehängt, siehst du?", er deutete durchs Fenster auf die Wand neben dem Esstisch, an dem einige Familienbilder hingen, aber ohne Spur von Harry. "Sie haben mit mir abgeschlossen. Und wäre ich wieder aufgetaucht, wüssten sie nicht, was sie tun sollen. Und sie hätten ein Problemkind an der Backe gehabt. Ein Kind ohne Schulabschluss, welches ständig auf seine Eltern angewiesen wäre. Da lebe ich lieber so wie jetzt, ohne sie zu belasten. In einem scheiß Haus mit nur dem Nötigsten und Kakerlaken überall. " Kurz schwieg er. "Sie sehen glücklicher ohne mich aus, vertrau mir einfach, wenn ich das sage. Sie haben anscheinend endlich keine Geldprobleme mehr."

Relapse (H.S.)Where stories live. Discover now