F O U R T E E N

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F O U R T E E N | Ich merkte, wie ich mich davor drückte, das Büro zu verlassen, welches sich plötzlich so heimisch anfühlte bei dem Gedanken an Harry, der draußen auf mich wartete.

Cassies Fragen war ich für den restlichen Arbeitstag so gut wie möglich ausgewichen, was sich als schwerer herausgestellt hatte, als es eigentlich klang. Die bloße Erklärung, dass ich nichts mit diesem 'verdammt gutaussehenden' Mann hatte und Noah nicht betrog, hatte ihr wohl nicht gereicht, auch wenn sie mir schlussendlich geglaubt hatte.

Sie wollte wissen, woher er kam, wo und wie ich ihn kennengelernt hatte, wie gut wir uns kannten, wie alt er war, und natürlich auch, ob er eine Freundin hatte. Die Hälfte der Fragen konnte ich mir nicht einmal selbst beantworten, geschweige denn ihr. Aber auch die Fragen, auf die ich eine Antwort hatte, konnte ich ihr so nicht einfach mitteilen. Außerdem war der Gedanke, dass sie es nur fragte, weil er sie interessierte, abstoßend.

Unangenehm war mir die Sache vor Cassie trotzdem. Der Kuss auf die Wange ließ zum zehnten Mal seit der Mittagspause meine Wangen aufglühen vor Wut und Scham. Was hatte er sich bitte dabei gedacht? Er wusste, dass ich verlobt war, und sowas dann noch vor meiner Freundin abzuziehen war bitter. 

Inzwischen war ich eine der letzten im Büro. Die meisten waren schon nach Hause gegangen, unter ihnen Cassie. Doch schließlich blieb mir ja doch nichts anderes übrig, also schnappte ich mir meine Jacke von meinem Bürostuhl, nahm einmal tief Luft und begab mich zum Ausgang, vor welchem in der Tat ein Harry stand, mit verschränkten Armen an die Hausmauer gelehnt.

"Tun wir mal so als wüsste ich nicht, dass du dadrin extra getrödelt hast.", war das erste, das seinen Mund verließ, was mich noch bevor ich bei ihm angekommen war, fassungslos stehen bleiben ließ. "Hey.", fügte er dann noch hinzu.

"Wie bitte?", ihn kritisch musternd verschränkte ich nun auch die Arme vor der Brust, "tu hier nicht so auf Menschenkenner, Styles."

Ein schelmisches Grinsen schlich sich auf seine Lippen. "So gerne ich das auch behauptet hätte, aber leider war es nur deine nette Freundin, die mir vor über einer halben Stunde verraten hat, dass du fertig bist. Seltsam nur, dass ich trotzdem so lange auf dich warten musste, mh?"

  Am liebsten hätte ich ihm dieses dreckige Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Doch wir waren nicht allein, nicht dort, sondern inmitten einer Großstadt, wo ich all diese Aufmerksamkeit, die das bringen würde, lieber umging. "Seltsam ist eher, dass du mir in meiner Mittagspause aufgelauert hast wie ein Pädophiler.", entgegnete ich endlich, nachdem ich meine Gedanken gesammelt hatte, "ich meine, was sollte überhaupt dieser Kuss? Bist du vollkommen bescheuert? Dir ist klar, dass ich verlobt bin und meine Freundin alles mitbekommen hat, oder?"

"Weißt du, Amalia. Vielleicht hättest du einfach etwas netter an die ganze Sache rangehen können. Schließlich hast du dich gestern bei mir  gemeldet um dich auszuheulen, und heute bist du undankbar genug um mich dafür anzuzicken.", knurrte er und steckte die Hände in die Hosentaschen, den Blick hatte er auf den Boden gerichtet. Ich konnte nicht genau sagen, ob ein wütender Ausdruck in seinem Gesicht lag oder ob er irgendwelche anderen Gefühle vor mir verstecken wollte.

"Hast du nicht gesehen, dass ich mit Cassie unterwegs war? Wie verständnisvoll soll ich laut dir denn sein, um mich verfolgen zu lassen, während ich mit jemandem in meiner Mittagspause essen gehe? Natürlich 'zicke ich dann rum', wenn ich herausfinde, dass mich jemand stalkt.", fauchte ich zurück.

"Oh, tut mir ja schrecklich leid, dass ich vor deiner Freundin nicht mit der ganzen Wahrheit rausgerückt bin, um sie von unserem kleinen Erlebnis zu informieren! Ich hatte gehofft, ich bekomme die Gelegenheit, dich mal kurz alleine zu erwischen, verdammt! Denkst du wirklich, du wärst mir wichtig genug, um solche Strapazen an meinem freien Tag auf mich zu nehmen, wenn ich dir nicht etwas Wichtiges mitzuteilen hätte?", zischte er grob, was mich einen kleinen Schritt zurückweichen ließ. Es traf mich etwas heftiger als gewünscht, während er das so leichtfertig aussprach, mit dieser puren Wut im Gesicht. Ich mied seinen Blick, meine Augen auf die Büsche neben uns geheftet.

"Ich bin nicht Noah.", sagte er dann, was mich doch kurz aufsehen ließ, "ich achte nicht so auf deine Gefühle wie er es wahrscheinlich tut. Nicht, dass du auf meine achten würdest. Ich bin einfach nur hier, weil ich genauso wie du in der Scheiße stecke." Er zögerte nicht, um sich umzudrehen und sein olivfarbenes T-Shirt  so hochzuziehen, dass sein Rücken frei lag und dieser einige dunkelrote, geschwollene Kratzspuren entblößte, die sich parallel und in gleichmäßigem Abstand über seine Haut nach unten zogen und über seinem Hosenbund aufhörten.

"Dazu bin ich heute morgen aufgewacht, nachdem ich einen komischen Traum hatte, an den ich mich nicht erinnere. Die hatte ich gestern noch nicht."

Am liebsten hätte ich gesagt, dass er sich an etwas gekratzt haben musste, vielleicht doch noch gestern Abend und dass er sich das nur einbildete. Doch der Fakt, dass er wirklich ernst war, während er das sagte und vollkommen rational schien, ließ mich doch den Mund halten. Mir war klar, dass es nicht irgendwas war. Die Kratzer sahen außerdem viel zu geordnet und dick aus, um sich an irgendetwas gerieben zu haben. Als hätte ihn die Tatze einer Wildkatze leicht gestreift. Und es war sicher kein Zufall, dass so etwas passierte, nachdem meine Träume begonnen hatten.

Im Endeffekt wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich brachte kein einziges Wort über die Lippen, auch wenn mein Mund offen stand. Harry zog sich sein Shirt wieder runter und drehte sich zu mir um, um mich zu mustern.

"Ich brauche keine Antwort. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. So gerne ich es auch um meinen eigenen Willen geglaubt hätte, du bist nicht verrückt. Hier passiert irgendwas.", er machte ein kurze Pause und seufzte dann leise, während er auf die Straße blickte, sein Blick zeigte etwas Unergründbares.

"Es tut mir leid.", murmelte ich schließlich, was ihn wieder zu mir sehen ließ.

"Was meinst du?", fragte er sichtlich verwirrt, während mich pure Reue durchflutete. Beschämt wendete ich den Blick zu Boden.

"Dass du da jetzt auch mit drin hängst.", flüsterte ich schließlich, was ihn zu einem leichten Lachen veranlasste. 

"Ich hänge schon die ganze Zeit mit drin. Darüber haben wir doch schon gestern gesprochen. Wir sind beide entkommen, und wenn sie wirklich leben und Rache wollen, dann sowieso an uns beiden.", erklärte er ruhig, so ruhig, dass es mich fast schon aus der Fassung brachte. Machte es ihm denn gar nichts aus?

"Nein, Harry. Du hast mir ja nicht mal geglaubt, während ich schon am verzweifeln war. Und kaum glaubst du mir, passiert dir sowas? Ich hab es schon einmal gesagt. So gerne ich auch an Zufälle glaube, das gehört nicht dazu." Meine Gedanken rasten nur so durch den Kopf, während ich sprach. Mir wurde etwas klar. "Es ging ihnen nicht um dich. Ich hab sie an der Nase herumgeführt. Sie wollten dich töten und ich hab dich ihnen weggenommen. Ich hab den Ausgang gefunden, den sonst niemand kannte. Ich hab ihr ganzes Versteck enthüllt und hab dann ihre Welt niedergebrannt. Sie wollten Rache an mir."

"Und jetzt doch plötzlich auch an mir, weil ich davon weiß? Hör dir mal selbst zu, Amalia. Das macht doch nicht mal Sinn.", erwiderte er. Doch es machte in der Tat Sinn. Und während ich so in seine Augen sah, konnte ich erkennen, dass es auch für ihn Sinn machte. Doch er wollte es nicht zugeben. Aus irgendeinem Grund wollte er mit dieser Lüge leben.

"Wir sollten uns einfach gegenseitig auf dem Laufenden halten.", meinte er stattdessen, als wolle er nicht weiter darüber nachdenken, bevor er mir den Rücken zukehrte. "Und wenn es dir so viel lieber ist, schicke ich dir nächstes Mal eine SMS. Man sieht sich." Er klang abweisend, während er das sagte.

Dann ging er, ohne mir einen letzten Blick zu schenken. Fast fühlte es sich nach Abschied an.


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I am baaaack.
Ich sitze gerade im Bus, und es ist sehr schwer einen gescheiten Text bei dem Ruckeln zu verfassen, also halte ich mich kurz. Ich hoffe, euch hat das Kapitel gefallen. Was denkt ihr? Wieso will Harry mit der Lüge leben, auch wenn er selbst nicht glaubt, was er sagt? Ich bin gespannt auf eure Meinungen :)

All the love, Vicky Xx


Relapse (H.S.)Where stories live. Discover now