T H I R T Y T W O

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T H I R T Y T W O | Die Nacht verlief ruhig. Harry schlummerte tief und fest neben mir vor sich hin, während ich schon eine ganze Weile wach lag und nicht schlafen konnte. Mein Kopf drehte sich zu ihm, stumm betrachtete ich ihn. Sein sonst so wilder Ausdruck, den er vor Jahren nicht einmal im Schlaf hatte ablegen können, war von seinem Gesicht gewichen. Er sah friedlich aus, verletzlich, und viel jünger als wenn er wach war. Fast schon etwas hilflos.

Ich fummelte planlos mit dem Rand der Decke, die über mir lag. Das erste Mal seit unserer Begegnung hatte ich das Gefühl, dass ich einen großen Teil des wahren Harrys kennengelernt hatte, innerhalb nur weniger Stunden. Einen Teil, den ich jahrelang kein kleinstes Bisschen erhaschen konnte. Und nun lag er hier, und seine Schutzmauer war das erste Mal gefallen. Er hatte keine Anstände gemacht, sich krampfhaft vor mir zu schützen. Er hatte ohne Widerstand seine Gefühle freigegeben.

Ich drehte meinen Kopf wieder so, dass ich nun an die hohe Decke starren konnte. Eigentlich war ich müde, ich wusste nicht, wieso mir das Schlafen nun so schwer fiel. Wahrscheinlich war es mein prall gefüllter Kopf, heute war viel passiert, und so schnell würde ich das wohl nicht verarbeiten können.

Und wie ich Indie vermisste. Ich schloss die Augen, während mich die Erinnerungen einholten. Ein Bierchen vor dem Fernseher, manchmal zwei. Indie vor meinen Füßen, schlafend. Und Noahs Arm um meine Schultern, der mich beschützte und streichelte, während er den Bildschirm anlachte. Ein kurzer Schmerz der Trauer in meiner Brust, weil es nie wieder passieren würde.

Ich seufzte, die Augen wieder geöffnet. Hoffnungslos, dieser Versuch, etwas Schlaf zu erwischen. Ich fühlte mich hoffnungslos. Vielleicht wäre es besser gewesen, dort zu bleiben und mich ihren Plänen einfach-

Nein! Ich schoss hoch. So durfte ich nicht denken. Das durfte ich nicht. Ich schwang die Beine aus dem Bett und lief zum Fenster hinüber. Keiner von uns hatte den Vorhang zugezogen, und so fand ich mich auf die Straße hinunterstarrend wieder. Alles leer, nur die Laternen leuchteten vor sich hin. Kurz flackerte eine von ihnen.

Sie wollen, dass du das denkst. Sie sind in deinem Kopf.

Das Stadtzentrum war nicht viel mehr als eine  gepflasterte Straße mit alten Häusern. Eine winzige Kleinstadt, von fast allen Landkarten rausgestrichen, unwichtig.

Sie beeinflussen dich.

"Nein!", zischte ich diesmal, bemerkte nicht, wie Harry hinter mir davon wach wurde und die Augen auf blinzelte. Zum ersten Mal spürte ich seinen stechenden tiefen Blick nicht in meinem Rücken. Meine Fäuste lagen geballt auf der Fensterbank. Unter mir schien die Stadt zu schlafen.

So wird es weitergehen, bevor du von alleine zu ihnen zurück gekrochen kommst.

"Du lügst.", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Die Stimme klang so nah, als würde sie direkt hinter mir stehen, nicht in meinem Kopf mit mir reden. Sicher waren es sie. Und redeten über sich selbst als sie.

Sei nicht dumm, Amalia. Du redest mit dir selbst. Ich bin du, und ich kenne deine tiefsten Gedanken besser als du. Hier sind sie, hier lege ich sie dir vor wie Kassenzettel. Du brauchst das Wissen doch, um sie zu bekämpfen. Das willst du doch, nicht wahr?

Ich wurde verrückt. Ich redete nie mit mir selbst, und erst recht war da sonst keine realistische Stimme in meinem Kopf. Es mussten sie sein. Sie waren wirklich in meinem Kopf und machten sich über mich lustig. Meine Finger vergruben sich keuchend in meinem Haar.

"Lasst mich in Ruhe!", fauchte ich aufgebracht. Zwei warme Hände legten sich an meine Oberarme. Sie waren rau, fast schon zu rau, und entlockten mir fast einen Schrei.

Relapse (H.S.)Where stories live. Discover now