131. Mondblumen

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Wir saßen eine ganze Weile schweigend da und starrten den Himmel an.
"Du bist sicher vollkommen überfordert. Wer hätte auch gedacht,  dass du... so etwas... kannst?
Mach dir keine Sorgen.
Alles wird gut werden, du kriegst das hin mit deinen Kräften.
Mir geht es doch auch gut.
Mach dir keine Sorgen." Wiederholte er und ich nickte einfach.

Als ob ich die Sorgen aufhalten konnte in meinem Kopf herumzuschwirren.

Wenn ich seiner flüsternden Stimme lauschte, schweiften meine Gedanken zu dem Moment, als ich dachte ich würde sie nie wieder hören.

Jetzt ist er doch da.

Ich versuchte meine innerliche Unruhe zu besänftigen.
Doch irgendwie löste sich der Kloß in meinem Hals nicht.
Ich wich seinem stechenden Blick aus und schluckte.
Seine Finger umschlossen meinen Kiefer sanft und drehten meinen Kopf langsam zu ihm, sodass ich geradewegs in seine leuchtenden, fesselnden Augen blickte.
Für einen Moment verschwand dieses Unwohlsein.
Alles verschwand.

Ich zog die Augenbrauen zusammen und legte, bedacht ihn nicht zu verletzen, meine Arme um ihn.
Mein Kinn, dass er zuvor noch in den Händen gehalten hatte, legte ich auf seiner Schulter ab.
"Ich dachte ich hätte dich verloren." Wisperte ich vorwurfsvoll und meine Stimme versagte.
Die Tränen liefen mir nur so übers Gesicht und ich schluchzte leise.

Ace zuckte zusammen und ich spürte durch den Stoff meines Oberteils, wie er mir über den Rücken strich.
"Ich bin hier, ich bin hier. Du verlierst mich niemals." Hörte ich seine Stimme beschwichtigend in mein Ohr flüstern.
Niemals.
Ich vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge und schniefte leise.
Ich hasste es vor anderen Schwäche zu zeigen.
"Ich liebe dich."
Seine Hand streichelte über meinen Haarschopf.
"Ich liebe dich."

Die weißen Mondblumen waren in mittelgroßen Sträußen überall verteilt.
Ich schluckte die Trauer herunter.
Ich wollte nicht schon wieder weinen.
Den ganzen Tag hatten wir alles vorbereitet, ich hatte einige Blumen gepflückt.
Ich hatte versucht die Tatsache zu verdrängen, doch nun gab es nichts mit dem ich mich ablenken konnte.

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und wir standen alle in einem Kreis, Ace und Sam neben mir.
Ace nahm langsam meine Hand und drückte sie leicht.
John, der Mate von Gina, sah vollkommen am Ende aus.
Ich wusste wie er sich fühlte.
Denselben Schmerz hatte ich auch für einen kurzen Moment gespürt.
Aber nur noch so zu fühlen, musste schrecklich sein.
Es fühlte sich an als würde man nur noch vor sich hin sterben.
Nicht mehr, als wäre man lebendig, sondern nur noch ein atmendes Wrack.
Er tat mir unglaublich leid.
Unter seinen Augen dunkle Ringe und seine Haut war weißer als das Mondlicht.
Außerdem hatte er wohl Gewicht verloren.
Seine Wangenknochen stachen heraus.
Man musste ihm  doch irgendwie helfen können.
Es gab doch Menschen, die sich in Wölfe verwandeln konnten, dann war es doch gar nicht so undenkbar sein, diesen Schmerz zu heilen.
Er trug mit Ace's Vater eine runde silberne Fläche, auf der jemand lag.
Um Gina herum lagen überall die weißen Blumen, welche auch rund um den großen, ebenfalls kreisrunden Stein verteilt waren.
Ihr rotes Haar lag wie eine Krone um ihren Kopf herum.
Ihre Haut verschmolz mit den Mondblumen.
Sie glänzte bläulich im Licht  des bereits auftauchenden Vollmond.
Jeder von uns hielt eine gefärbte Mondblume in der Hand.
Sie wurde auf den pechschwarzen Stein gelegt und John und James traten ebenfalls in den Kreis.
John weinte und versuchte sein Schluchzen zu unterdrücken, sonst war es so still, dass man eine fallen gelassene Nadel gehört hätte.
Ich biss mir auf die Lippe um nicht miteinzustimmen.

"Heilige Mondgöttin, heile uns von dem Schmerz.
Jemand hat uns verlassen.
Aus deinem Licht entstanden, in deinem Licht vergangen.
Heile sie von dem Schmerz.
Schenke ihr dein Licht.
Lasse ihre Seele wieder zu deinem Licht werden.
Mögen die Sterne sie behüten und in der Ewigkeit ruhn lassen." Letzteres hauchte sie nur noch.

"Du warst mir wie eine Schwester.
Du warst meine beste Freundin, meine Ratgeberin und ein Teil von mir.
Dein Lachen, deine Stimme, du wirst uns fehlen.
Ruhe in Frieden."
Sie trat aus dem Kreis zu Gina und legte ihre Mondblume, welche die Farbe von Feuer hatte auf ihre Stirn.
Dann stellte sie sich wieder zurück.

Als wir alle unsere bunten Blumen auf ihren leblosen Körper gelegt hatten, konnte man von ihr nichts mehr sehen.
Jeder schloss die Augen und senkte den Kopf.
Ich tat es ihnen gleich.

Eine leise Melodie ertönte.
Sie wurde nicht gesummt und auch nicht mit einem Instrument gespielt.
Sie spielte einfach, kaum hörbar.
Ihr Klang war von solcher Traurigkeit, dass sie mich beinahe überwältigte.
Sie war wunderschön.
Der Drang nachzusehen war groß, doch ich widerstand ihm.
Mein Herz wurde ganz schwer.
Unsicher suchten meine Finger wieder nach Ace's Hand, die mir Sicherheit gab.
Unsere Finger verschränkten sich und er fuhr beruhigend mit seinem Daumen über meinen Handrücken.

"Du kannst sie wieder öffnen." Flüsterte Ace und ich schaute auf den Blumenhaufen, der nun leuchtete.
Meine Augen wurden groß.
Die Blumen strahlten in allmöglichen Farben und begannen sich nacheinander in Luft aufzulösen.
Staunend sah ich wie die letzten weißen Blüten vom Wind davon getragen wurden.

Gähnend stand ich auf und machte mich fertig.
Heute war Montag.
Es war so merkwürdig, in die Schule zu gehen und so zu tun, als gäbe es keine Werwölfe, als wäre Ace nicht beinahe gestorben, als wäre Gina gestern Nacht nicht beerdigt worden.

Hier war es das größte Problem, wenn man die Arbeit verhauen hatte.
Ich zog mir einen blauen Pullover und eine schwarze Jeans an.
Heute würde mein Vater wiederkommen.
In der letzten Woche war er auf Geschäftsreise gewesen.
Ace würde erst nächste Woche wieder in die Schule kommen.
Ich hatte auch meinen Freunden erzählt, dass er einen Unfall hatte, damit sie sich nicht fragten warum ich kaum Zeit mehr hatte, so zerstreut war und warum er nicht da war.

"Oh mein Gott. Bald ist ja der Winterball und Weihnachten!" Quietschte Liz und sprang fröhlich herum.
"Dann bin ich wohl wieder die Einzige, die nur fürs Buffet kommt und sich selbst eine Einladung und Karten schenkt." Schulterzuckend seufzte sie und verzog das Gesicht.
Chelsea lachte leise und ein leichtes Lächeln erschien auf meinem Gesicht.

Bälle waren toll.

Vielleicht würde jetzt alles gut werden.
Mit Sicherheit.

•Moonnight•✅Where stories live. Discover now