Kapitel 10 - Die Wasserstadt

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„Willkommen in unserem Teil der Schule. Willkommen in der Wasserstadt", sagte er feierlich und der Nachdruck seiner Worte jagte mir einen angenehmen Schauer über den Rücken.

„Bitte fallt vor lauter Eindrücken nicht um, wenn ihr sie seht, okay?"

Ich bildete mir ein, so etwas wie ehrliche Besorgnis in seinen Blick erkennen zu können, als ob er es wirklich ernst meinen würde.

Doch als er eine breite, aber weniger hohe Flügeltür aufstieß, die über und über mit blauen Linien bemalt war, konnte ich seine Aussage nachvollziehen.

Ich kann guten Gewissens sagen, dass mein Gehirn sowieso schon totale Matsche ist, weil es heute so viele unglaubliche Dinge verarbeiten musste. Aber das, was ich jetzt sah, übertraf alles.

Ich stand mit meinen anderen sieben Kollegen schlicht und einfach gesagt in einem großen Raum, der genauso hoch, wie auch breit war. Mit anderen Worten war er einfach riesig. Er bestand, wie der Skyway, über den wir hierhergefunden hatten, vollkommen aus Glas, durch welches man erkennen konnte, was genau diesen Raum so besonders machte.

Was genau so überwältigend war.

Und ich machte mir wirklich ein bisschen Sorgen um mein Herz, das wie verrückt in meinem Brustkorb auf und ab sprang, als ich begriff, dass dieser Raum sich in einem gigantischen Aquarium befand.

Rund um mich herum war alles in dunkles Blau getaucht. Das wenige Licht der Fackeln und Meridiem, das von außen in das gläserne Aquarium einstrahlte, brach sich in dem türkisfarbenen Wasser und sandte blaue Strahlen in diesen Raum. Es war überwältigend wie das Wasser an den Wänden, an der Decke, am Boden auf mich zukommen zu schien, nur um an der Glaswand davon abgehalten zu werden, mich vollends in den Bann zu ziehen. Ich fühlte mich, als wäre ich wirklich unter Wasser, nur mit der vollkommenen Bewusstheit, dass dies nicht der Wahrheit entsprach.

Als ich langsam wieder bei Sinnen war und die Augen von der atemberaubenden Location lösen konnte, sah ich auch, dass der Raum nicht leer war. Obwohl es schien, als ob möglichst wenig Möbel hier hergestellt worden sind, um den Zauber, vollkommen von Wasser umgeben zu sein nicht zu brechen, standen vereinzelt Sessel und Sofas herum. Die älteren Schüler lungerten in den Sitzecken herum, unterhielten sich oder hielten ein Buch oder eine Zeitschrift in den Händen.

Aber Anthony gab uns keine Zeit, den Raum oder die Leute näher zu betrachten, denn er lotste uns durch den Saal auf dessen gegenüberliegende Seite. Hier war ein kreisrundes, relativ großes Loch in dem Glas. Jeder normale Menschenverstand hätte erwartet, dass das Wasser, von dem der Raum umgeben war, augenblicklich in den trockenen Saal rauschen würde. Immerhin würde das kleinste Leck in diesem Raum bedeuten, dass er überflutet wurde. Aber so war es nicht und es war beinahe merkwürdig, dass es mich nicht einmal verwunderte.

Das Wasser schien von einer unsichtbaren Macht davon abgehalten werden, mir geradewegs in das Gesicht zu strömen. Als wäre die Glaswand nicht von dem großen Loch unterbrochen, machte es direkt vor unserer kleinen Gruppe halt.

Ich spürte meine Augen regelecht größer werden, als Anthony die Hand ausstreckte und ohne Probleme durch das Loch in das Wasser fasste. Was mich jedoch noch mehr verwunderte war die Tatsache, dass seine Hand nicht nass war, als er sie wieder zurückzog.

Als hätte er unsere ungläubigen Blicke gemerkt, was wahrscheinlich nicht besonders schwer war, wir sahen wahrscheinlich alle aus, als ob man uns gerade das erste Mal erzählen würde, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt, setzte er sofort zu einer Erklärung an:

„Hier befinden sich nur Leute, wie wir. Nur Leute, die unglaublich, oder auch weniger, gut mit ihrer Gabe umgehen können. Wenn man das Wasser zügeln kann, ist man unter anderem auch dazu im Stande es davon abzuhalten, eine ganze Schule zu überfluten"

Er zuckte leicht mit den Mundwinkeln und verzog dann das Gesicht zu einem verlegenen Lächeln. Als ob es allein sein Werk gewesen wäre.

„Man lernt außerdem ziemlich schnell, nicht nass zu werden. Das ist eine Eigenschaft des Wassers, die mir ziemlich auf den Sack geht, deswegen hängt euch wirklich rein, wenn ihr das im Unterricht behandeln werdet" Sein Blick wurde wieder ernst. „Es wird kein Tag vergehen, an dem ihr nur ein bisschen mit Wasser in Kontakt kommen werdet. Irgendwann wird es nervig, immer nass zu werden. Besonders wenn ich euch gleich verrate, wie ihr zu euren Zimmern kommen werdet"

Der ernste Blick war wieder aus seinem Gesicht verschwunden und wurde durch ein böses Grinsen ersetzt, als ein schlaksiger Junge aus unserer Gruppe entsetzt, mit weit geöffnetem Mund auf das Loch in der Wand deutete.

Anthony nickte hämisch und redete weiter.

„Man erreicht alle Zimmer nur durch dieses Loch. Ich werde euch jetzt erklären, wie das ablaufen wird und ich erwarte von euch, dass ihr gut zuhört"

Es war gruselig, wie schnell dieser Kerl seine Gemütslagen wechseln konnte.

„Jeder von euch hat ein eigenes Zimmer", fuhr er fort und zog aus seiner hinteren Hosentasche einen zerknitterten Zettel. Während er einen Namen nach dem anderen vorlas und eine passende Nummer dazu, lauschte ich, bis ich meinen Namen hörte. Was nicht lange dauerte, denn immerhin waren wir nur zu acht.

Alice. 83.

Anthony faltete den Zettel wieder ordentlich zusammen, was in meinem Kopf keinen Sinn ergab, denn er war dermaßen zerfleddert, dass es gerade egal war, ob er nun gefaltet war oder nicht. Jedenfalls verschwand der besagte Zettel wieder in seiner Hosentasche und er trichterte uns ein, uns unsere Zimmernummern zu merken.

„Außerdem ist es strengstens untersagt, nach 22 Uhr in den Zimmern von Schülern anderen Geschlechts zu sein. Aber das wird euch bestimmt noch häufiger gesagt. Spätestens, wenn ihr diese Regel schon gebrochen habt"

Er lief rot an, als ob er aus einem eigenen Erfahrungsschatz schöpfte und ich musste, wie alle anderen, grinsen.

Anthony räusperte sich, fuhr dann fort.

„Es wird folgendermaßen ablaufen: Durch dieses Loch, nur durch dieses Loch, habt ihr Zugang zum Aquarium. Das Aquarium ist ziemlich groß und an den Außenwänden findet ihr Türen, die mit jeweils drei Nummern bestückt sind. Unser Problem ist jetzt, dass ihr zu der richtigen Tür gelangen müsst, bevor euch die Luft ausgeht. Manche können besser die Luft anhalten, manche weniger gut. Ihr bekommt ein intensives Training, wenn ihr den Unterricht besuchen werdet, aber bis jetzt muss euch eure herkömmliche Lungenkapazität reichen. Ich hoffe wirklich, dass es kein Problem sein wird, aber ich bin natürlich da, um Tode zu vermeiden"

Ich wusste nicht, wie ernst er diesen letzten Satz gemeint hatte, aber ich versuchte, es nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Ich wusste, wenn es hier einen Problemfall geben würde, ich dieser wäre. Ich hatte nie wirklich das Schwimmen gelernt, habe es mir irgendwann notgedrungen selbst beigebracht. Und vom Luftanhalten will ich gar nicht anfangen. Ich hatte noch nie wirklich die Lust, noch die Zeit oder Möglichkeit es auszuprobieren. Und ich hoffte wirklich, dass ich Anthonys Hilfe nicht benötigen werde.

„Die Zimmer der Erstklässler sind meistens gleich hier an der gegenüberliegenden Wand rechts", sagte Anthony. „Aber bitte unterschätzt den Weg von hier bis zu den Türen nicht. Es sind um die zehn Meter"

Seine ernsten Augen bohrten sich in jeden von uns und ich konnte mir auf einmal sehr gut vorstellen, warum er Schülersprecher war. Wenn er die Autorität eines Lehrers hatte und mit diesem Blick andere Schüler regelrecht bezwingen konnte, fungierte er bestimmt als guter Ansprechpartner.

Alice. 83.

Ich wiederholte im Kopf noch einmal Anthonys Worte und hoffte, ich würde meine Zimmertür schnell finden, als er sich auf das Loch zubewegte und uns langsam bedeutete, ihm zu folgen. Im nächsten Moment war er schon durch im Wasser verschwunden und ich konnte seine Konturen im beleuchteten Wasser ausmachen.

Ich folgte ihm als Letzte. Ich wusste nicht, ob ich wirklich so ein langsamer Schwimmer war, wie ich mir einbildete, aber sollte dies der Fall sein, wollte ich auf keinen Fall einen der anderen daran hindern, schnell zu ihren Türen zu gelangen.

Und dann war ich selbst im Wasser.

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