- Kapitel 57 -

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Mit rasendem Herzen steuerte June auf den Treffpunkt im Wald zu. Alex schien noch nicht da zu sein. Also setzte sie sich auf einen umgekippten Baumstamm und versuchte sich durch Atemübungen zu beruhigen.

„Was gibt's so dringendes?", fragte Alex und setzte sich dicht neben June. Sie rückte ein Stück zur Seite um die Distanz zwischen ihnen zu wahren.

„Ich mache den ganzen Scheiß nicht mehr mit. Ich bin raus.", entgegnete sie.
„Das willst du nicht wirklich oder?", sagte Alex und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel und streichelte sie.
„Doch." June nahm seine Hand von ihrem Bein.
„Stell dich nicht so an... Mit deinem Ausländer-Ex hast du doch auch nicht nur Händchen gehalten...", sagte Alex und kam June noch näher.
„Das geht dich einen Scheißdreck an." Wieder rückte June von Alex weg.
„Aber du bist so wunderschön. Dich soll keiner außer mir haben. Dich wird keiner außer mir haben.", sagte Alex und versuchte June zu küssen. Sie drehte den Kopf weg und versuchte Alex wegzustoßen, doch er hielt sie fest.
„Hier geblieben Süße."

Gegen seine starken Arme hatte sie keine Chance. Trotzdem versuchte sie sich mit aller Kraft zu wehren. Sie stand auf, in der Hoffnung weglaufen zu können, doch er drückte sie gegen einen Baum und begann ihren gesamten Körper mit seinen Händen zu erkunden. Auch vor den intimsten Stellen machte er trotz Junes Wehrversuchen keinen Halt. Er drückte sie mit einem Arm an den Baum und verhinderte, dass June ihre Beine bewegen und ihn wohlmöglich treten konnte. Er küsste sie und presste sich an sie. June rannen Tränen die Wangen hinunter. Ihr Herzschlag war so stark, dass sie das Gefühl hatte, es würde aus ihrem Brustkorb springen.

„Hör' auf! Alex hör' bitte auf!", brüllte June.
„Nein, niemals. Du gehörst mir.", hauchte er in ihr Ohr. Als June das klirren seiner Gürtelschnalle hörte, nutzte sie die einmalige Gelegenheit, befreite sich und trat ihm mit aller Wucht direkt zwischen die Beine.

Gekrümmt vor Schmerzen ließ er June los. Sie rammte ihr Knie in seinen Bauch und schubste ihn zu Boden. Dann rannte sie los. Orientierungslos rannte sie einfach immer geradeaus. Weiter und weiter. Irgendwann entschloss sie sich, von den festen Wegen abzuweichen und im Dickicht weiterzulaufen.

Nach einiger Zeit brauchte sie eine Pause. Sie gönnte sich 10 Sekunden Verschnaufpause, ehe sie weiterrannte, auf der Suche nach einem Versteck. Ihr Gehirn konnte nur noch an die schreckliche Situation denken und war auf Rennen eingestellt. Alle Sinne waren bis zum Anschlag geschärft. Sie rannte und rannte, das wiederholte Springen über umgeknickte Bäume und dicke Äste nagte an ihrer Ausdauer. Durch die kühlen Temperaturen und die Anstrengung begann Junes Lunge zu brennen, wie Feuer. Ihr Brustkorb bebte und ihre Beine gaben nach. Sie robbte noch ein Stück, bis zu einem großen Busch, in dem sie sich versteckte.

June konnte ihre Beine nicht mehr spüren. Sie saß da, der Schweiß rann ihr den Rücken und die Schläfen hinab. June hatte keine Ahnung, wie weit sie gelaufen war, sie konnte sich auch nicht daran erinnern, wo sie überall langgelaufen war, alles war wie ausradiert. In ihrer Panik hatte sie nur daran gedacht, möglichst viel Abstand zwischen sich und Alex zu bringen.

Mit zitternder Hand griff June in ihre Jackentasche, um ihr Handy hervorzuholen. Sie musste Hilfe holen. Als erstes fiel ihr der Polizist von vorhin ein. Sie wählte die Nummer, doch keiner hob ab. „SCHEISSE!", fluchte June innerlich. Dann schrieb sie eine SMS an ihre Mutter:

Mama ich stecke in Schwierigkeiten. Alex ist hinter mir her, ich brauche Hilfe! Schnell!

June teilte ihren Standort mit ihrer Mutter und betete inständig, dass sie es rechtzeitig schaffen würde. Was würde passieren, wenn Alex sie vorher finden würde? Sie mochte es sich nicht ausmalen. Würde er es zu Ende bringen? Sie zum Sex zwingen und dann?

Plötzlich ein knacken im Unterholz. June rutschte das Herz in die Hose. Wie versteinert saß sie da und hoffte, dass es nicht Alex war. Keine weiteren Geräusche, kein Rufen, kein Licht. Die Luft schien, noch, rein.

Was June Sorgen bereitete, war, dass es bereits dämmerte. Es dauerte vielleicht noch eine Stunde, dann war es nicht nur stockfinster, sondern auch klirrend kalt. Die Temperaturen hatten nachts bereits Minusgrade erreicht. In ihrer dünnen Jacke und dem durchgeschwitzten Pulli war es nur eine Frage der Zeit, bis sie komplett unterkühlte.

Dann, wieder ein knacken, doch dieses Mal blieb es danach nicht ruhig.

„June? Wo bist du? Komm' raus!"

Es war die unverkennbar, aggressive Stimme von Alex und in der Ferne konnte sie den Lichtkegel seiner Taschenlampe erkennen. Er schwenkte umher, um jeden Zentimeter des Gebietes unter die Lupe zu nehmen und June ausfindig zu machen.

Junes Herz hämmerte so stark gegen ihren Brustkorb, dass sie befürchtete, es löse ein Erbeben aus oder war hörbar. Sie konzentrierte sich darauf, keinen Laut von sich zu geben, schloss die Augen und fuhr ihre Atmung weitestgehend runter.

Dann vernahm sie durch ihre Augenlider Licht. „Scheiße, das war's. Alex hat mich gefunden.", dachte June. Ihr Leben und insbesondere die Monate seit dem Umzug rauschten vor ihrem inneren Auge an ihr vorbei. Eine Träne, gefolgt von vielen weiteren, rann ihr Gesicht hinab. Ihre Lunge fühlte sich an wie zugeschnürt. Das war jetzt ein ganz schlechter Zeitpunkt für eine Panikattacke.

„June, komm raus, ich finde dich! Ich warne dich! Wag' es nicht die Polizei zu rufen.", rief Alex. Wenn June sich nicht täuschte, war er noch einige Meter von ihr entfernt. Sie überlegte, ob sie versuchen sollte, wegzulaufen, doch Alex war schneller als sie. Mit seinen langen, kräftigen Beinen hätte er sie binnen ein paar Metern eingeholt. Sie entschied sich dafür, zu beten, dass er sie übersehen würde.

Vorsichtig öffnete sie die Augen. June sah noch kurz das Licht von Alex' Taschenlampe hinter ihr hervorscheinen.

„Das war's. Ich bin erledigt.", dachte June.

Dann spürte sie ein Tuch vor dem Mund, ihr wurde schwarz vor Augen und verlor das Bewusstsein.

Der Weg zum Licht [***Abgeschlossen***]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt