- Kapitel 54 -

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Am nächsten Morgen schlich June sich aus dem Haus. Sie ging zur normalen Zeit los, als wäre an diesem Tag nichts Besonderes. Doch anstatt zur Schule, ging June zu dem angekündigten Treffen mit Alex und den Anderen. Sie hoffte inständig, dass sie dieses Mal davon verschont blieb, dass ihre Eltern sie sahen.

Mit einem mulmigen Gefühl ging sie den Weg im Park entlang, um zum Treffpunkt zu gelangen. In der Nacht hatte es stark geregnet und den Schotterweg zierten unzählige Pfützen. Die kleinen Steinchen knirschten bei jedem Schritt unter den weißen Gummisohlen ihrer NIKE-Sneaker.

Die Hände in den Taschen und den Blick stur nach unten gerichtet, ging June auf die Wiese zu, wo sie sich treffen wollten. Auch, wenn der Regen bereits lange aufgehört hatte, war der Himmel noch immer dunkelgrau und wolkenbehangen. Aus der Ferne konnte June bereits die unverkennbar hohe Stimme von Anne und jene, tiefe, bestimmte, von Alex vernehmen. Bei dem Gedanken an die gestrige Situation zwischen ihr und Alex lief June ein eiskalter Schauer über den Rücken. Von der einen auf die andere Sekunde war er aggressiv geworden und sein Blick leer.

„June! Hier sind wir!", rief Marielena.

Als sie die Gruppe erreichte, zwang June sich ein so freundliches Lächeln, wie nur irgend möglich auf.

„Hey."

Wie immer, wurden alle zur Begrüßung umarmt, jedoch hoffte sie, um die Umarmung von Alex herum zu kommen. Doch die Hoffnung war vergebens. Er kam zu ihr, umarmte sie so fest, wie an dem Nachmittag, als er June in den Stall brachte und seine Hand rutschte während er Umarmung noch tiefer als letztes Mal. „So, wie es ist, soll es bleiben. Nicht wahr?", flüsterte Alex ihr zu ohne eine Antwort zu erwarten.

Dann wandte er sich den anderen zu:

„Wir sollten woanders hin, hier sind wir zu auffällig. Wir treffen uns gleich im Wald wieder. Markus, nimmst du bitte Anne und Marielena mit? Ich kümmere mich um June."

Hilfesuchend blickte June zu Marielena und Anne. Doch die beiden hatten ihr bereits den Rücken zugewandt und folgten Markus zu seinem Auto.

‚Na herzlichen Glückwunsch... Hat er nicht gestern gesagt, dass sein Auto kaputt sei?', dachte sie und folgte angespannt und auf alles gefasst ihrer Mitfahrgelegenheit. Zu ihrer Überraschung stieg sie tatsächlich in ein anderes Auto ein.

„June, entspann dich doch mal. Ich tu' dir schon nichts.", versuchte Alex June zu besänftigen, wobei er seine Hand auf ihren Oberschenkel legte und diesen streichelte. June fühlte sich unwohl und spürte ein flaues Gefühl in der Magengegend, doch sie traute sich nicht, ihn zurückzuweisen. Konzentriert sah sie aus dem Fenster und hoffte, nicht weiter mit ihm sprechen zu müssen.

„June, ich will, dass du mir hilfst. Die anderen werden auch da sein, aber du wirst mich, egal was kommt unterstützen und mir helfen. Ist das klar?", forderte Alex.
„Was meinst du?", fragte June.
„Falls die Bullen auftauchen wirst du nicht wegrennen, sondern mir zur Seite stehen. Egal was passiert – wir machen das zusammen, verstanden?"
„Und wenn ich das nicht will?", fragte sie.
„Mäuschen, das Thema hatten wir schon. Ich bekomme IMMER, was ich will. Ich kenne genug Leute, die dir und deiner Familie sehr großen Schaden zufügen können. Das willst du doch nicht, oder?"

Eingeschüchtert schüttelte June den Kopf, denn während seiner Worte, packte er ihren Oberschenkel stärker. So stark, dass es fast wehtat.

Alex bog in einen kleinen Waldweg ein und stellte sein Auto auf einem kleinen Parkplatz ab. Auch, als er den Motor seines Wagens bereits abgeschaltet hatte, wagte June nicht, auszusteigen. Sie saß einfach verkrampft und angeekelt da. Mit zusammengepressten Oberschenkeln, ihre Hände gefaltet und im Schoß abgelegt, ihr Blick nach draußen gerichtet. June war so in Gedanken, dass sie erschrak, als plötzlich die große Gestalt von Alex vor dem Fenster erschien und die Tür öffnete.

„Aussteigen."

Schweigend folgte June Alex zu den anderen. An diesem Ort waren sie vorher noch nie gewesen. Eine kleine Lichtung am Waldrand, mit einem kleinen Grillhäuschen. Es sah im Sonnenschein bestimmt einladend aus, für laue Sommernächte, Grillpartys und zum Entspannen. Doch jetzt wirkte es verlassen und heruntergekommen. Auf dem Tisch hatte Markus bereits Allerlei Utensilien ausgebreitet: Pappen, Holzstäbe, Farbe, Hammer und Nägel.

‚Wollen die allen Ernstes Plakate machen? Meinen die nicht, dass das etwas lächerlich wirkt? Aber mir soll es recht sein... Am liebsten wäre mir aber eigentlich, wenn wir diese ganze Aktion sausen lassen...', überlegte June.

Markus erklärte, was er sich vorgestellt hatte und June hatte recht: Markus und Alex wollten tatsächlich Plakate machen. Die Parolen gefielen June ebenfalls nicht, beziehungsweise nicht mehr, nach dem nachdenklich machenden Gespräch mit ihren Eltern. Warum mussten Eltern auch nur immer recht haben?

Die Plakate wurden mit den Sprüchen „Schmarotzer raus!", „Deutschland muss deutsch bleiben!" und „Verpisst euch!" beschriftet. Dann noch mit den Holzstäben zusammengenagelt und in Plastiktüten verstaut.

„Morgen treffen wir uns früh wieder genau hier. Dann gehen wir gemeinsam los und werden denen Mal zeigen, was wir von denen halten. Ich werde noch ein paar Freunde mitnehmen, wir werden also circa 20 Leute sein. Wenn wir nur mit unserer kleinen Gruppe dort auftauchen, dann lachen die uns ja aus... So schinden wir etwas mehr Eindruck.", berichtete Alex.

Als sie die Zeit des Schultags überbrückt hatten, wollte June sich ausklinken und nach Hause gehen.

„Na wo wollen wir denn hin?", fragte Alex, als June ihre Sachen zusammenpackte.
„Nach Hause.", entgegnete sie kühl.
„So lange du pünktlich morgen um 08:00 Uhr hier bist, will ich das durchgehen lassen. Aber ich bestehe darauf, dich nach Hause zu fahren."
„Ich gehe lieber zu Fuß, danke."
„Ich glaube du hast nicht verstanden. Ich werde dich nach Hause fahren. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert."
„Ach komm' schon. Was soll mir schon auf dem kurzen Weg passieren?"
„Dein asozialer Ex-Freund könnte versuchen dich doch zurückzugewinnen. Oder was weiß ich."
„Jetzt hör' mir mal zu! Erstens: Miloš ist nicht asozial! Zweitens: Ich kann es nicht leiden, wenn jemand so über meine Freunde spricht! Drittens: Ich werde jetzt zu Fuß gehen!", fauchte June ihr Gegenüber an und wollte gehen.

Alex packte grob ihren Oberarm, zog sie zurück und gab ihr eine Ohrfeige. June schrie kurz auf, zum einen, weil sie sich zu Tode erschrocken hat, zum anderen, weil ihre Wange brannte, wie Feuer. Sie legte ihre kalte Hand an die glühende Wange. Dann sah sie mit finsterem Blick Alex an und brüllte: „Sag mal spinnst du? Mir eine zu scheuern?"

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich es nicht leiden kann, wenn man sich mir wiedersetzt und so mit mir redet. Und wenn du nicht gleich Ruhe gibst, dann kassierst du noch eine. Beweg dich!", konterte Alex und schubste June vor sich her.

Als sie im Auto saßen, nahm June allen Mut zusammen und wandte sich Alex zu: „Was ist eigentlich los mit dir? Du bist wie ausgewechselt!"

„Ich bin es nicht gewohnt, etwas nicht zu bekommen und das macht mir schlechte Laune!"

„Was ist es, was du willst und nicht bekommen kannst? Das kann doch nicht so schwer sein. Also: Was willst du?"

„Dich.", antwortete Alex, ohne den Blick von der Straße zu lösen.


Der Weg zum Licht [***Abgeschlossen***]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt