- Kapitel 55 -

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Zu Hause angekommen, widmete June sich ihrem Tagebuch:

„Liebes Tagebuch,

Alex und seine Leute wollen morgen vor einem Flüchtlingsheim demonstrieren. Ich befürchte, dass sie jedoch nicht friedlich demonstrieren werden. Ich habe ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Jedoch kann ich auch nicht kneifen, denn Alex macht mir Angst.
Er ist total aggressiv geworden, hat mich geschlagen und mir gedroht. Ich kann mich ihm nicht wiedersetzen. Das schlimmste an der Sache ist aber der Grund für seine Aggressionen: Er will mich als seine Freundin und er weiß, dass ich Miloš liebe, ein zusätzlicher Dorn im Auge.
Was mache ich denn jetzt? Ich bin wirklich verzweifelt. Ich kann mit niemandem Reden, aus Angst, dass Alex meinen Liebsten etwas antut. Erst habe ich die Aussage für lächerlich befunden, doch mittlerweile traue ich ihm alles zu - wirklich alles. Und ich fühle mich beobachtet. Vielleicht bilde ich mir das ein, vielleicht auch nicht. Ich werde vorsichtig sein und auf mich aufpassen, so gut es eben geht. Eigentlich bin ich nicht gläubig, aber ich bete, dass morgen nichts passiert.

Mehr kann ich nicht tun.

Bis hoffentlich bald,

June"

Schweren Herzens klappte sie ihr Buch zu, legte die Hand darauf und verharrte einen Moment so, als ob sie dadurch genug Kraft und Mut für morgen tanken könnte.

June ging an diesem Abend sehr früh schlafen, da sie befürchtete, dass die Nacht unruhig werden würde.

Und sie sollte recht behalten, denn am nächsten Morgen wachte June total gerädert auf. Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihr Empfinden. Tiefschwarze Augenringe zierten ihr Gesicht und in Kombination mit der verschmierten Mascara kam der Anblick dem eines Waschbären sehr nahe.

June ging an ihren Kleiderschrank, griff sich einen schwarzen Kapuzenpulli und eine normale Blue-Jeans. Dazu machte sie eine Spitzen-Chokerkette um. Ihre Haare entwirrte sie und trug sie offen.

Dann griff sie ihren Rucksack und verließ, wie an jedem Morgen pünktlich das Haus. Jedoch steuerte sie nicht die Schule, sondern den Grillplatz im Wald an. Zu ihrer Erleichterung waren bereits schon die meisten da, auch die Freunde von Alex. Nur Alex selbst fehlte noch.

Mit zehn Minuten Verspätung trudelte er am Treffpunkt ein.

„Okay, wir machen es wie folgt: Sobald wir vor dem Heim angekommen sind, geht es los. Knallhart, laut und mit allem, was nötig ist. Wir schrecken vor nichts zurück, wir sind keine Waschlappen! Also Leute: Worauf wartet ihr noch? Showtime!", verkündete Alex, worauf er eine Mischung aus den verschiedensten Jubelrufen erntete.

„June, du kommst mit mir.", richtete Alex sein Wort an June. Sie hatte dies bereits befürchtet und folgte ihm kommentarlos.

Alex stellte sein Auto in einiger Entfernung zum Flüchtlingsheim ab. Er sah June an, dass sie sich bei der Sache nicht wohlfühlte und auch ihm gegenüber sehr eingeschüchtert war.

„Entspann dich, da passiert schon nichts.", spielte er die Situation herunter. Als sie auf die bereits protestierende Meute zuliefen, sahen sie, wie sich bereits einige Jalousien und Rollläden lichteten und die Bewohner nachsahen, wo der Lärm herkam.

Das weiße Gebäude war alt, hatte Risse in der Fassade und sah wenig einladend aus. Die Freunde von Alex demonstrierten bereits auf Hochtouren. Auch June war auf Grund von Alex' Drohungen mit dabei. Aus den angekündigten 20 Beteiligten sind derweil mindestens doppelt so viele geworden. Alle brüllten und pöbelten die wildesten, absurdesten Parolen. June stieg mit ein. Die Gruppe war aggressiv, einige von ihnen machten sich auf den Weg in das Gebäude. Doch einige, jugendliche Bewohner kamen ihnen zuvor, denn sie machten sich auf den Weg in die wütende Meute. Es ging alles zu schnell für June. In rasender Geschwindigkeit hatte sich die Demonstration in eine Massenschlägerei verwandelt. Alex und seine Freunde hatten sich zusammengetan und prügelten auf die Flüchtlinge ein. June war wie versteinert und konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Sie hatte das Gefühl über dem Geschehen zu schweben und alles aus einer Art Paralleluniversum zu beobachten. June konnte nichts hören, sie blinzelte nicht, verzog keine Miene. Sie sah große Platzwunden, Blut und den ein' oder anderen Zahn fliegen. June spürte die Gefahr, die von der Situation ausging, doch sie war nicht in der Lage sich zu bewegen. Auch das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Sie stand kurz vor einer Panikattacke. Ungünstiger Zeitpunkt, ungünstiger Ort.

Die Angehörigen der Flüchtlinge, die in die Schlägerei verwickelt waren standen in einiger Entfernung und waren außer sich. Außer sich vor Angst und Wut. Sie hatten Angst um ihre Geliebten, hatten Tränen in den Augen und schrien. Gegenseitig hielten sie sich davon ab, zu versuchen, dazwischen zu gehen und schlichten zu wollen. Das hätten sie nicht geschafft. Mit ihren schmächtigen, dürren Körpern würden sie den Schlägen von Alex' Clique nicht lange standhalten.

Die Schreie aus Verzweiflung und Angst mischten sich mit denen von Schmerz und Aggressionen. Eine schreckliche Mischung, die Junes Kopf zum Platzen bringen würde. Sie hatte Angst, fühlte sich machtlos.

Dann hörte sie plötzlich weitere Schreie aus dem Gebäude und sah kurz darauf Flammen aus den Fenstern schlagen. Es hatten sich einige in das Flüchtlingsheim geschlichen und es war zum Brand gekommen. Ob es Brandstiftung oder ein Unfall war, wusste June nicht. Sie befürchtete Ersteres. Noch immer stand June versteinert da.

Aus der Ferne konnte sie die Sirenen von Feuerwehr und Polizei wahrnehmen. Blitzschnell hatten sich die Feuerwehrfahrzeuge vor dem Gebäude platziert und die Feuerwehrmänner rannten mit Schutzmasken und Schläuchen in das Haus, um alle zu Evakuieren und vor Allem den Brand zu löschen.

Währenddessen ging die Polizei gegen die gegeneinander kämpfenden Parteien vor und versuchte sie zu trennen und die Situation zu schlichten.

Zu den 40 aggressiven Demonstranten und circa noch einmal so vielen Flüchtlingen mischten sich 20 Polizisten, die mit aller Macht versuchten Herr der Lage zu werden.

Es gab zahlreiche Festnahmen, darunter auch Markus, Anne, Marielena und Alex, der June einen finsteren Blick zuwarf.

Es lief alles wie in einem Film ab, als ob man zu Hause auf dem Sofa säße und im Fernsehen die schrecklichen Bilder sah. Dass dies jedoch bittere Realität war, merkte June, als die Polizisten versuchten auch mit June zu sprechen, nachdem sie die Situation beruhigen konnten.

Doch die 17-jährige schwieg. Sie konnte nicht sprechen. Nachdem der Polizist bei ihr nichts erreichen konnte, bat er seine Kollegin, es zu versuchen. Doch auch sie konnte June kein Wort entlocken.

Also beschlossen sie, sie mit auf das Präsidium zu nehmen. June wurde zu einem Streifenwagen geleitet, in dem sie Stumm platznahm. Auch das Anschnallen schaffte sie nicht.

Auf dem Präsidium angekommen, sickerten langsam alle Geschehnisse in Junes Welt: Ihre Freunde waren verhaftet worden, auch sie befand sich in polizeilicher Obhut, ihre Eltern würden benachrichtigt werden.

Es wurden Menschen verletzt. June war fassungslos. Sie hatte Angst. Um die Verletzten und davor, was jetzt mit ihr Geschehen würde. Mit der ganzen Situation war June grenzenlos überfordert. Das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und June saß nun in dem grauen, kahlen Raum auf ihrem Plastikstuhl und begann bitterlich zu weinen, zu schluchzen, wirre Halbsätze von sich zu geben und nach Luft zu ringen. Da war sie, die Panikattacke. June wurde von ihr, wie von einem Tsunami, überrollt und hatte keine Chance zu entkommen.

Der Weg zum Licht [***Abgeschlossen***]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt