Epilog

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Epilog

Thomas legt den Kopf in den Nacken und blickt hinauf ins Blätterdach der Eiche. Es ist spät, das Mondlicht filtert in silbernen Flecken auf den Waldboden. Eigentlich stellte er es sich anders vor, als Angie einen Nachtspaziergang vorschlug. Aber beklagen will er sich nicht. Fasziniert lauschte er die halbe Nacht Silàns Geschichte. Angie sieht die Schwester selten und wollte alles wissen, was inzwischen passiert ist. Besonders interessierte sie sich für den Wiederaufbau von Silita-Suan und das Schlüpfen eines Geleges von Drachenschatten.
Nun sitzt Thomas auf der großen Wurzel einer Eiche und spielt gedankenverloren mit Angies goldenen Locken. Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen ihn und benutzt seine Knie wie die Armlehnen eines Sessels. Thomas mustert Silàn aufmerksam. Er hat Angies Schwester nicht mehr gesehen, seit sie damals als verschollen galt. Sie besitzt immer noch die gleiche beeindruckende Persönlichkeit, und A'shei steht ihr in nichts nach. Die beiden haben sich auf der anderen Seite dieser unsichtbaren Schranke, die Silàn den Spiegel nennt und die ihre Welten trennt auf einer Wurzel niedergelassen. Sie sind einfach und zweckmäßig in dunklen Farben gekleidet, überhaupt nicht dem königlichen Stand entsprechend, den sie laut Angie innehaben. Silàn meinte dazu, das sei bequemer zum Reisen, es genüge, wenn sie für Feste und Verhandlungen ein Kleid anziehen müsse. A'shei lachte über diese Bemerkung. Am Hals trägt Silàn eine feine silberne Kette mit einem blattförmigen Anhänger. Ihr glattpolierter hölzerner Armring gleicht jenem, den Angie trägt und den sie von Andres hat. Ihr langes silbernes Haar fällt offen über ihre Schultern und bildet einen auffälligen Kontrast zu A'sheis schwarzem. Am eindrücklichsten sind aber die silbernen Augen der beiden. Angie, die den beunruhigenden Effekt bereits kannte, meinte bei der Begrüßung leichthin, das komme vom Mondlicht. Silàn lächelte dazu, ohne etwas hinzuzufügen.
Eine einzige Nacht kann niemals ausreichen, um alle Fragen zu beantworten, die Thomas auf der Zunge brennen. Deshalb begnügt er sich damit, Angie zuzuhören, die leise ihre Zukunftspläne erklärt, und ab und zu mit A'shei einen verständnisvollen Blick zu tauschen. Der stille junge Mann gefällt ihm, er würde ihn gerne besser kennenlernen. Der Tanna hat seinen Bogen und Köcher voller Pfeile in Griffweite an den Baum gelehnt. Immer wieder schweift sein ruhiger Blick aufmerksam über die Lichtung, während er gedankenverloren mit dem geschnitzten Anhänger spielt, den er um den Hals trägt.
Thomas hat heute Nacht viele erstaunliche Dinge erfahren. Es fällt ihm im Moment noch schwer, alles zu akzeptieren. Silàns und A'sheis Geschichte klingt wie aus dem Märchenbuch. Andererseits genügt es, die beiden anzusehen, um die Magie zu spüren, die sie umgibt. Er wird später Angie nach der Vorgeschichte fragen müssen. Wie er sie kennt, brennt sie darauf, ihm alles zu erzählen.
Silàns Frage zum Reitstall holt ihn aus seinen Gedanken. Angie nimmt seine Hand und schildert mit viel Begeisterung, was sie bisher erreicht haben und was ihre nächsten Ziele sind. Thomas liebt ihren unzerstörbaren Enthusiasmus. Silàn, die seinen Gesichtsausdruck studiert, fragt unvermittelt nach der schwarzen Stute, die sie bei ihrer ersten Begegnung reiten durfte.
«Sie lebt noch, hat für ein Reitpferd aber ein beträchtliches Alter. Wir lassen sie meist auf der Weide. Das war dein erster Ausritt, nicht wahr? Du warst ein Naturtalent. Reitest du noch?»
Silàn wirft A'shei einen schelmischen Seitenblick zu.
«Manchmal mehr, als mir lieb ist.»
Thomas glaubt, ein verächtliches Schnauben zu hören. Allerdings gibt es in der Lichtung niemanden, der ein so tiefes Geräusch verursachen könnte. Er muss sich das eingebildet haben. Er will Silàn gerade eine weitere Frage stellen, als ein Schwarm farbiger Lichter aus dem Wald tanzt. Als sie näher kommen, erkennt Thomas durchscheinende Kugeln in verschiedenen Größen, die von innen her leuchten. Wenn sie sich bewegen, erklingt ein leiser Ton, wie das Läuten kleiner Glocken. Gebannt verfolgt er, wie sich eine der größten Kugeln auf Silàns ausgestreckter Hand niederlässt. Ihr Gesichtsausdruck ist freudig überrascht, sie scheint den Besuch nicht erwartet zu haben. Aber bald runzelt sie die Stirn und wendet sich ernst an A'shei.
«Die Xylin sagen, dass Silmira uns sucht. Es gibt ein Problem in der Gegend von Ramenar. Bauern wollen einen Wald abholzen, in dem Nsilí leben.»
A'shei verzieht das Gesicht in einer unangenehmen Erinnerung.
«Ramenar? Daran denke ich nicht gern zurück.»
«Ich auch nicht. Aber wenn Silmira meint, wir seien die einzigen, die vermitteln können, werden wir wohl gehen müssen. Vielleicht treffen wir unsere alte Freundin Xyan wieder.»
«Xyan von Ramenar und den gehässigen Worten. Das wird interessant! Was meint ihr, sind wir für einen Langstreckenflug bereit?»
A'shei strahlt bei diesen Worten übers ganze Gesicht als freue er sich auf die Herausforderung. Silàn wirft einen Blick auf zwei dunkle Nebelschwaden, die sich im Licht der Xylin zusammenballen und verfestigen. Thomas nimmt Angie beschützend in die Arme. Zwei Paar große, goldene Augen mit schräggeschlitzten Pupillen blinzeln in den Schatten. Die Wesen, zu denen die Augen gehören, scheinen aus reiner Dunkelheit zu bestehen. Ihre Konturen verändern sich ständig. Nur die Augen sind klar sichtbar und mustern Thomas und Angie neugierig. Eine mächtige Stimme rumpelt über die Lichtung.
«Wenn Silmira meint, es sei dringend, sollten wir uns auf den Weg machen, Ahranan. Ich muss zugeben, sie ist längst nicht mehr so flatterhaft wie früher.»
«Ein Verdauungsflug kann nicht schaden.»
Die goldenen Augen der kleineren Gestalt blinzeln bei dieser Bemerkung unverkennbar schelmisch. Angie betrachtet fasziniert die Schatten.
«Silàn, sind das Hna... Hra...?»
«Darf ich vorstellen, die Hrankaedí Ranoz und Noak, Angie, Thomas.»
Ranoz brummt etwas Unverständliches, allerdings nicht unfreundlich. Thomas schüttelt ungläubig den Kopf. Das also sind Drachenschatten. Sie wirken ziemlich bedrohlich. Auf einmal ist er froh über die Barriere, welche die Welten trennt. Angie scheint keine solchen Bedenken zu kennen. Ihre Augen strahlen im magischen Licht der Xylin. Leider bleibt ihr kaum Zeit, die neue Bekanntschaft zu genießen. Rasch tritt Silàn durch den Spiegel, um die Schwester zum Abschied zu umarmen.
«Auf Wiedersehen, Angie. Alles Gute. Thomas, es hat mich gefreut, dich wiederzusehen. Hoffentlich finden wir ein anderes Mal mehr Zeit, miteinander zu plaudern.»
In Angies Augen stehen plötzlich Tränen. Sie blickt von Ranoz und Noak zu A'shei.
«Kommt uns bitte bald besuchen. Und A'shei, pass auf sie auf.»
«Ewig und eine Nacht, wie ich es versprochen habe!»
Angie nickt wortlos. Silàn wendet sich an Thomas.
«Pass bitte auf meine Angie auf. Und auf dich selbst natürlich auch!»
Thomas legt einen Arm um Angies Schultern.
«Das werde ich. Ewig und einen Tag?»
A'shei nickt zufrieden. Thomas spürt, wieviel die Formulierung dem Tanna bedeutet. Silàn lächelt still, während sie Bogen und Köcher zurechtrückt, ihre Jacke schließt und den Schal enger um den Hals zieht. Geschickt schwingt sie sich auf Ranoz, wo sie fast in den Schatten verschwindet. A'shei und Noak sind bereit. Silàn winkt zum Abschied, bevor die beiden Hrankaedí ihre Reiter in einem Wirbel schwarzer Schattenschwingen davontragen. Die Xylin beleuchten noch einen Moment die Lichtung und tanzen mit einem Regenbogenleuchten zwischen den Bäumen davon. Angie blickt ihnen verzaubert nach und lehnt sich gegen Thomas. Er nimmt sie fest in die Arme. Diese Nacht wird er so schnell nicht vergessen.
Eine Wolke zieht vor den Mond - oder sind das die Schatten mächtiger Schwingen? - und es wird plötzlich dunkel. Angie nimmt Thomas bei der Hand. Schweigend machen sie sich auf den Heimweg.
Sie bemerken nicht, wie die Lichtung und der Weg in eine andere Welt verschwinden. Von einem der Äste der uralten Eiche blinzelt ihnen das schwarze Eichhörnchen verschlafen nach, bevor es in sein Nest zurückklettert, um den unterbrochenen Schlaf fortzusetzen.

SilànWhere stories live. Discover now