2-13 Die Tore von Penira

2K 118 5
                                    

Die Tore von Penira

Obwohl es im Morgenlicht aussah, als läge die Stadt ganz nah, brauchen Silàn und A'shei noch mehr als den halben Tag, um ihre Mauern zu erreichen. Je näher sie kommen, desto belebter ist die Straße und desto unruhiger wird Silàn. Seit sie heute morgen von A'shei erfuhr, dass er noch nie in Penira war, ist ihre Vorfreude einer unbestimmten Angst gewichen. A'shei, der weiß, dass seine Begleiterin in einer Stadt aufgewachsen ist, bemerkt nichts davon. Vermutlich ist er selbst viel zu aufgeregt. Silàn hat keine Ahnung, wie sie ihm den Unterschied zwischen ‹ihrer› Stadt mit Verkehrslärm, großen Einkaufszentren und Leuchtreklamen und dieser von bedrohlichen Mauern eingefassten, auf kleiner Fläche zusammengedrängten Ansammlung von Gebäuden aus roh behauenen Steinen begreiflich machen soll. Deshalb versucht sie es gar nicht. Stattdessen beobachtet sie fasziniert die Leute, welche zu dem großen Tor in der mächtigen, von massiven Türmen überragten Stadtmauer ziehen oder von dort her kommen. Es sind Familien dabei, die mit ihrem ganzen Hausrat unterwegs sind, Händler und Handwerker, die genau wissen, was sie wollen und eilig zwischen Bettlern und alten Leuten hindurchdrängen, welche mit Feuerholz zum Tor zurückkehren. Die meisten der Menschen haben das goldene Haar und die blauen Augen der Keleni. Daneben gibt es aber dunklere Färbungen, vor allem das braune Haar und die dunklen Augen der Nordländer. Ab und zu glaubt sie, vermischtes Tannaríblut zu erkennen, wenn auch niemand so schwarzes Haar besitzt wie A'shei oder Dánan. Selten bekommt sie die roten Locken und grünen Augen der Leute aus dem Süden sehen. Es gibt eine Legende, dass ihre Augen deshalb grün sind, weil sie zwischen den Felsen und Schneefeldern ihrer Heimat so oft vergeblich einen grünen Fleck zum Grasen für ihr Vieh suchen.

Als sie sich endlich dem Tor nähern, kommt ihnen eine Abteilung Krieger entgegen. Sie tragen glänzende Rüstungen mit einem goldenen Sonnensymbol auf der Brust und himmelblaue Mäntel, die Uniform der Garde des Königs. Ihre grimmigen Blicke schüchtern Silàn ein und sie wünscht sich, weit weg zu sein von dieser Stadt.
«A'shei, denkst du, es ist eine gute Idee, hineinzugehen? Vielleicht sollten wir lieber umkehren.»
Der Junge schaut sie fragend an.
«Ich denke, wir werden unter all diesen Menschen nicht auffallen. Antim behauptet, dass es hier einen Schattenwandler gibt, der uns weiterhelfen kann. Glaubst du, in der Stadt leben Dunkelheiten?»
«Ich weiß es nicht. Ich habe kein gutes Gefühl. Aber vielleicht bin ich nur so viele Menschen nicht mehr gewöhnt. Lass uns diesen Schattenwandler finden, damit wir weiter kommen.»
Entschlossen nähern sie sich dem mächtigen Tor. Zuerst wird die Straße beidseitig von zwei massiven Mauern flankiert. Sie weisen in regelmäßigen Abständen Schlitze auf, durch die Bogen- oder Armbrustschützen den Zugang überblicken und im Bedarfsfall mit ihren Geschossen abdecken können. Das Stadttor steht weit offen, auf beiden Seiten von streng blickenden Wachen flankiert. Das scheint Silàn ziemlich unnötig, da eigentlich in Pentims Reich seit langem Friede herrscht.
Die Torflügel selbst bestehen aus mehreren Lagen von dicken, schweren Eichenbohlen. Sie werden von eisernen Bändern zusammengehalten und sind an mächtigen geschmiedeten Angeln aufgehängt. Vor dem Tor kann an riesigen Ketten außerdem ein schweres Gitter aus dem Torturm heruntergelassen werden. Die ganze Anlage ist einschüchternd und gemahnt an eine Zeit, als die Nordländer aus Lelliní Kriegszüge nach Kelèn führten und die Gegend mehrfach verwüsteten.
Beim Durchschreiten des Tors spürt Silàn deutlich die magischen Verstärkungen der Verteidigungsanlage. Hier liegen zahllose Zauber übereinander, manche davon sind uralt. Die Wächter werfen den beiden Reisenden, die im Strom all der anderen nicht auffallen, keinen Blick zu. Trotzdem hält sich Silàns ungutes Gefühl hartnäckig. Sie fühlt sich eingeengt und beobachtet, obwohl das farbenfrohe Treiben um sie herum keinen Anlass zu solchen Ängsten gibt. Auch als sie aus der unmittelbaren düsteren Umgebung des Stadttors herauskommen, lässt ihre Angst kaum nach. Vor ihnen liegt offener Platz, von dem aus verschiedene Gassen in die Tiefe der Stadt führen. Auf dem Platz findet ein Markt statt, der größte, den die beiden je gesehen haben. So nahe beim Tor wird lebendes Vieh verkauft. Nebst Kühen, Schweinen und Pferden sind alle Arten von Kleinvieh im Angebot. Der Lärm und Gestank ist unbeschreiblich. In das Wiehern, Muhen und Blöken der Tiere mischt sich das Geschrei der Händler und Kunden, alles wird überlagert vom Geruch nach Schweiß und Exkrementen.
Rings um den Platz reihen sich mehrstöckige Steingebäude mit rostroten Ziegeldächern. Dahinter erhebt sich auf einer Felskuppe mit steilen Flanken Pentims Palast eindrucksvoll über der Stadt. Die weiß gekalkten Mauern reichen weit in den Himmel und sind von zahlreichen zierlich wirkenden Zinnen und Türmen gekrönt. Die farbig glasierten Dachziegel sind in unzähligen verschiedenen Schattierungen aufeinander abgestimmt. Das Haus Diun, das Stammhaus der Sonnenkönige, scheut keinen Aufwand, um seinen Reichtum und seine Macht mit diesem Bauwerk zur Schau zu stellen.
Silàn betrachtet das prunkvolle Gebäude und fröstelt. Hinter den weißen Mauern verbirgt sich etwas, das ihre magischen Fähigkeiten berührt. Rasch wendet sie den Blick ab, als ob sie sich damit verbergen könnte. Sie ist nun sicher, dass es ein großer Fehler war, hierher zu kommen.
«A'shei, in dem Palast lebt etwas Gefährliches, ich spüre Magie. Ich glaube, wir hätten nicht hierherkommen sollen. Es nimmt uns bereits wahr. Glaubst du, dieser Schattenwandler kann uns verstecken?»
Der Junge blickt sie erschrocken an. Es ist noch heller Tag, wenn Silàn jetzt schon feindliche Magie spürt, wird es am Abend noch schlimmer werden. Er selber fühlt sich nicht wohl unter all diesen Menschen. Offensichtlich nahm er deshalb die Unruhe seiner Begleiterin nicht ernst genug. Aber im Moment ist es wohl das Beste, bei diesem Schattenwandler Zuflucht zu suchen. Antim erklärte ihm, wie er den Mann aus seiner Gilde finden kann. A'shei nimmt Silàn bei der Hand und führt sie in die erste Seitengasse auf der rechten Seite. Bald bleiben der Lärm und Gestank des Markts hinter ihnen zurück. Sie folgen der gepflasterten Gasse bis auf einen kleineren Platz. Dort biegt A'shei links ab. Sie steigen einige Stufen hoch und folgen einem sehr schmalen, gewundenen Gässchen. Die Häuser stehen hier so eng, dass sie beidseitig die schmutzigen Mauern berühren könnten. In diesem Viertel sind nur wenige Menschen unterwegs. A'shei atmet auf, als sie einen Platz mit drei großen Bäumen erreichen. Bis hierher stimmten Antims Anweisungen. Nun ist es nicht mehr weit.
Jetzt, wo der Palast nicht mehr in Sichtweite ist, beruhigt sich Silàn. Vielleicht bildet sie sich die Gefahr ja nur ein. Unterwegs beobachtet sie die Menschen, die ihren täglichen Verrichtungen nachgehen. Sie ist erstaunt, wie eng hier der Raum ist. Rings um die Plätze reihen sich Handwerkerbuden dicht an dicht. In den Gassen herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Ihr fällt auf, wie viele Bettler es gibt, wieviele Menschen wortlos aneinander vorbeihasten. Nur selten sieht sie ein lachendes Gesicht und es gibt kaum spielende Kinder auf der Straße. Die Stimmung wirkt gespannt und ernst, ganz anders als in Himenar, Zalkenar oder den zahllosen Dörfern, die sie auf der Reise durchquerten.
«Fällt dir auch auf, dass es hier kaum glückliche Menschen zu geben scheint?»
A'shei schaut sie überrascht von der Seite her an. Er verlor daran noch keinen Gedanken.
«Ich wäre auch nicht glücklich, wenn ich hier leben müsste. Aber es stimmt, die Leute scheinen alle vor etwas Angst zu haben. Vielleicht hast du recht mit deinen Bedenken und es gibt hier tatsächlich eine Quelle der Dunkelheit.»
«Was wissen wir eigentlich über Femolai? Wo steht ihr Thron?»
Silàn senkt die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Der Junge tut es ihr gleich.
«Du denkst... Hier? In der Stadt des Sonnenkönigs?»
Sie blicken sich kurz an und hasten schweigend weiter. Falls Silàns Vermutung stimmt, sind sie hier tatsächlich in Gefahr. Und so unwahrscheinlich die Kombination von König des Lichts und Königin der Dunkelheit zu sein scheint, auf eine seltsame Art würde das Manches erklären.
Endlich erreichen sie das schmale Haus in einer dunklen Gasse, wo nach Antims Beschreibung der Schattenwandler Gorenim wohnen soll. A'shei klopft ohne zu zögern an die alte Holztür. Sie hängt etwas schief in den Angeln, die Farbe blättert ab. Silàn tritt einen Schritt zurück und legt den Kopf in den Nacken, um das Haus zu betrachten. Wie bei allen Gebäuden in dieser Gegend ist nur das Erdgeschoss aus Steinen gefügt. Darüber folgen zwei weitere Stockwerke in Fachwerk, die Felder zwischen den verwitterten Balken mit Ziegeln und einer Ansammlung unterschiedlichster, schlecht vermörtelter Steine ausgefüllt. Der Verputz blättert an vielen Stellen ab, darunter sind zahlreiche Flickstellen und das Werk von Generationen von Handwerkern sichtbar.
A'shei klopft ein zweites und drittes Mal an die Tür. Endlich öffnet sie sich einen Spalt weit und eine unfreundliche, brüchige Stimme fragt nach ihrem Begehren.
«Wohnt hier Gorenim?»
Die Tür öffnet sich weiter und eine alte Frau beäugt sie misstrauisch.
«Was wollt ihr von dem alten Kauz? Er ist nicht mehr ganz richtig im Kopf. Oberstes Stockwerk.»
Die Alte bedeutet ihnen, hereinzukommen und verschließt die Tür geräuschvoll hinter ihnen. Dann weißt sie die Richtung zu einer dunklen Treppe und schlurft selber zu einer Tür zur Rechten, hinter der sie hustend verschwindet.
Silàn und A'shei schauen sich unsicher an, bevor sie den Aufstieg beginnen. Die Treppe knirscht als wolle sie gleich unter ihrem Gewicht zusammenbrechen. Im ersten Stockwerk gibt es beidseits des Treppenabsatzes zwei Türen. Sie steigen die zweite, noch steilere Stiege hoch und stehen schließlich in einem staubigen Flur vor einer weiteren verschlossenen Tür. A'shei muss auch hier ein zweites Mal anklopfen, bevor sich die Tür knarrend öffnet. Der Mann vor ihnen ist uralt, mindestens so alt wie Antim. Sein langes graues Haar fällt in schmutzigen Strähnen um seine schmalen Schultern, der ungepflegte Bart reicht ihm weit auf die Brust. Er trägt eine einfache, fadenscheinige graue Robe, wie sie für Schattenwandler typisch ist. Seine Augen und sein hageres Gesicht sind verkniffen.
«Was wollt ihr hier? Ich mache keine Heilungen mehr.»
«Wir bringen Grüsse von Antim aus Atara.»
A'shei steht sehr gerade, die Augen direkt in jene des fremden Schattenwandlers gerichtet. Dieser schüttelt den Kopf.
«Antim? Lebt der alte Romantiker noch? Das passt zu ihm, sich in den Wäldern von Atara zu verkriechen und nie wieder etwas von sich hören zu lassen... Kommt herein.»
Sie folgen dem alten Mann in einen düsteren Raum, der von zwei schmalen Fenstern erhellt wird. Spinnweben hängen von der Decke und Staub tanzt im Licht eines einzelnen Sonnenstrahls, der sich in das Zimmer verirrt. Die Einrichtung ist schäbig, aber alle freien Flächen sind mit seltsamen Geräten und Gefäßen vollgestellt, die unterschiedlichste Substanzen enthalten. Der alte Mann scheint sich mit der Herstellung von Pasten, Pulvern und Salben zu beschäftigen. Er setzt sich in einen abgewetzten Stuhl und blickt die Besucher fragend an.
«Also, weshalb erhalte ich die Ehre von Besuch aus Atara?»
«Wir sind auf dem Weg nach Eshte. Wir fürchten aber, dass wir von Dunkelheiten verfolgt werden. Es gibt keinen Beweis und wir hofften, unter all diesen Menschen hier sicher vor ihnen zu sein. Nur scheint es hier eher noch schlimmer mit ihrer Präsenz. Kannst du uns helfen?»
Der alte Mann schüttelt ungläubig den Kopf und reibt sich mit dem Zeigefinger die Seite seiner großen Nase. Er steht auf und geht zum Fenster, vertieft sich in die Aussicht. Erst nach einer Weile ergreift er das Wort.
«Ich weiß nicht, weshalb ihr hierher kommt. Antim hat keine Ahnung, wie diese Welt heute aussieht und wer die Macht hat, der alte Narr. Er glaubt immer noch, die Gilde der Schattenwandler könne die Dunkelheit aufhalten. Ihr hättet von Penira fern bleiben sollen. Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr die Stadt vielleicht vor Sonnenuntergang verlassen. Erwartet keine Hilfe von mir. Seid froh, wenn ich euch einfach so ziehen lasse.»
Silàn fasst A'sheis Hand und zieht ihn bestimmt zur Tür. Er folgt ihr stolpernd, den Blick immer noch ungläubig auf den unfreundlichen Schattenwandler gerichtet. Die junge Frau atmet erleichtert auf, als sich die Tür hinter ihnen schließt und flüchtet sich so schnell es geht die Treppe hinunter auf die Strasse. A'shei folgt atemlos. Draußen fasst er seine Freundin am Ärmel.
«Was ist los? Was siehst du?»
«Dunkelheit, dort in seiner Wohnung. Er steht mit ihnen in irgendeiner Beziehung. Lass uns gehen, solange wir können. Die Sonne steht schon tief.»
A'shei zögert nicht, Silàns Gespür für Magie lässt sie nie im Stich. Sie laufen los, zurück Richtung Tor. Aber irgendwo verpassen sie eine Abzweigung und verirren sich im Gewirr der engen Gassen. Auf der Suche nach dem richtigen Weg verlieren sie wertvolle Zeit. Schließlich folgen sie den länger werdenden Schatten in Richtung des Tors, das im Osten der Stadt liegt. Endlich erreichen sie den Platz, wo am Nachmittag der Viehmarkt stattfand. Er ist inzwischen leer, nur der Mist, der auf dem Pflaster liegt, erinnert an das lebendige Treiben. Kinder sind dabei, den kostbaren Brennstoff aufzusammeln.
Silàn und A'shei hasten weiter zum Stadttor. Aber sie haben den großen Platz noch nicht zur Hälfte überquert, als klar ist, dass sie zu spät kommen. Die riesigen Torflügel schließen sich langsam aber unaufhaltsam und fallen mit einem dumpfen Knirschen zu. Ein schwerer Schlagbalken wird vorgelegt und die Tore von Penira sind verschlossen, rechtzeitig zum Sonnenuntergang.
Silàn und A'shei bleiben in der Stadt gefangen.

SilànWhere stories live. Discover now