1-3 Der Wald

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Der Wald

In den nächsten Tagen gelingt es Bettina nicht, in den Wald zurückzukehren. Die Tante sorgt dafür, dass sie ihren Teil der Arbeiten ums Haus übernimmt, sobald sie von der Schule heimkommt. Erst am Samstag, als der Vater morgens noch schläft und Tante, Onkel, Stefan und Angie in den nächst größeren Ort zum Einkauf fahren wollen, hilft ihr der unwahrscheinliche Verbündete Andres mit einer Ausrede.
«Lass sie ruhig hier bleiben, sie kann für Peter Frühstück machen und ihr Zimmer aufräumen.»
Bettinas Zimmer ist längst aufgeräumt, sie besitzt nicht genügend persönliche Dinge, dass es für eine gemütliche Unordnung reicht. Und der Vater ist wie immer mit einer Tasse Kaffee zufrieden. Diese bringt sie ihm fürsorglich ans Bett.
«Ist es für dich in Ordnung, wenn ich rausgehe? Ich habe neulich diesen Jungen kennengelernt, der hat mich für heute eingeladen.»
Der Vater ist leicht zu überzeugen. Vermutlich hofft er, Bettina würde endlich über den Umzug und den Verlust ihrer Freundinnen hinwegkommen. Sie zieht die zerrissene Hose vom letzten Mal und einen warmen Pullover an. Für einen Frühlingstag ist es noch recht kühl. Die Sonne klettert gerade erst über die Baumwipfel, das Gras ist taufeucht und bald schon sind Bettinas Turnschuhe und Hosenbeine nass. Sie rennt den Pfad entlang zum Wald hinunter, fast sicher, dass sie A'shei nicht antreffen wird. Aber sie muss es einfach versuchen, sie dachte in den letzten Tagen immer wieder an diese seltsame Begegnung.
Im Wald ist es düster, die Sonnenstrahlen durchdringen das junge Laubdach noch nicht. Wo war doch gleich die Stelle? Bettina erinnert sich an das Eichhörnchen bei den großen Bäumen - waren das Eichen? Tatsächlich, da sind sie! Unter den mächtigen Baumriesen bleibt sie stehen. Hier wollte A'shei auf sie warten. Bettina lauscht auf die Geräusche des Waldes, Vogelstimmen, das leise Rauschen der Blätter und das viel zu laute Knacken eines Asts.
«A'shei? Bist du das?»
Der Junge tritt lachend aus dem Schatten des Eichenstammes.
«Du bist zurückgekommen. Ich gefürchtete, der Spiegel würde sich wieder schließen ohne dass ich dich wiedersehe.»
«Verzeih, dass es so lang dauerte, Tante Judith wollte mich nicht aus dem Haus lassen. Aber was ist eigentlich dieser Spiegel, von dem du immer sprichst?»
«So heißt das Tor zwischen unseren Welten. Wenn es verschlossen ist oder du zu denjenigen gehörst, die nicht passieren dürfen, wirkt es wie ein Spiegel und zeigt dir ein Bild von deiner Seite, so dass du den Weg hindurch nicht sehen kannst. Es liegt genau hier, zwischen diesen beiden Eichen. Für dich ist es offen, das ist ungewöhnlich. Deshalb habe ich hier auf dich gewartet.»
Bettina versteht von der Erklärung nichts außer dem letzten Satz.
«Du hast die ganzen vier Tage auf mich gewartet? Das ist doch unmöglich!»
«Nun ja, ich ging weg um zu essen und so. Aber meistens war ich hier. Ich wollte dich auf keinen Fall verpassen.»
Bettina schüttelt ungläubig den Kopf. Das klingt ein wenig verrückt.
«Und wo hast du geschlafen?»
A'shei lacht und zeigt ihr sein Moosbett zwischen den mächtigen Wurzeln der Eiche.
«Das Wetter war gut, ich konnte hier schlafen und den Spiegel bewachen. Ich habe es Antim versprochen. Er war sehr aufgeregt, als ich ihm von unserer Begegnung erzählte und bat mich, das Tor im Auge zu behalten, während er unterwegs ist. Aber ich glaube, der Spiegel weiß, wen er passieren lassen will. Und das Warten hat sich ja gelohnt! Wie geht es übrigens deinem Knie?»
Bettina versichert, dass alles fast verheilt sei. Sie lässt den Jungen trotzdem die Wunde ansehen, die von Schorf überzogen aber auf gutem Weg zur Besserung ist.
«Nashi ist das Beste für solche Schrammen. Sehr gut, dann kannst du sicher klettern? Ich möchte dir etwas zeigen.»
Obwohl Bettina A'sheis Erklärungen kaum versteht, willigt sie ein, ihn zu begleiten. Es tut gut, mit jemandem zusammen zu sein, der sie nicht kritisiert und sie akzeptiert, wie sie ist. Deshalb verzichtet sie vorerst darauf, für alles Erklärungen zu fordern. A'shei wirkt manchmal etwas seltsam, aber er ist eindeutig der netteste Junge, den sie hier kennengelernt hat. Zusammen folgen sie dem Pfad, den Bettina beim letzten Besuch entdeckte. Nach der Überquerung des eiskalten Bachs beginnt der Weg anzusteigen.
«Wir klettern auf den Hügel bei der großen Schlucht, dort haben wir einen guten Überblick.»
A'shei ist ein guter Führer und zeigt ihr tausend kleine Dinge, die ihrer Aufmerksamkeit entgehen würden. Sie beobachten eine Ameisenstraße und zwei Rehe, die aus einem Dickicht kommen und scheu stehenbleiben, bis sie vorbei sind. Der Boden wird steiniger, je weiter sie kommen und der Pfad immer steiler, bis sie an einigen Stellen klettern müssen. Die Laubbäume werden von Nadelhölzern abgelöst, die Bäume sind hier kleiner und knorriger als unten beim Bach. Bettina genießt den Ausflug. Die Luft ist klar und die Sonne beginnt zu wärmen. Sie zieht ihren Pullover aus und schlingt ihn um die Hüfte, wie ihr Begleiter es mit seiner Jacke gemacht hat. Darunter trägt er ein loses Hemd, das in seiner einfachen braunen Hose steckt. Endlich erreichen sie eine Höhe, die Ausblick ins Tal bietet, und machen Rast. Bettina sucht ihr Dorf, kann es aber nicht finden. A'shei zeigt ihr den Bach, den sie vorhin überquerten.
«Der Spiegel liegt gleich hinter jener Kuppe.»
Aber in dieser Richtung ist es dunstig und außer der Kuppe kann Bettina nichts erkennen. Plaudernd ziehen sie weiter. A'shei fragt nach ihrem Namen, den er bisher nicht kennt. Der Blick, den er ihr zuwirft, lässt sie stutzen.
«Was ist, gefällt dir mein Name nicht?»
«Nun ja, Bettina ist ein seltsamer Name. Er passt nicht zu dir. Eigentlich kann das unmöglich dein richtiger Name sein!»
Bettina ist etwas beleidigt.
«Ich habe nur diesen Namen, ich kann nichts dafür, wenn er dir nicht passt.»
«Verzeih. Ich meine, es klingt so, wie wenn mich Leute im Dorf ‹Unkraut› nennen. Nicht wie ein wahrer Name.»
Bettina ist schockiert.
«Wieso nennt dich jemand ‹Unkraut›?»
A'shei zuckt die Schultern.
«Weil ich keine Eltern habe und bei Antim lebe. Er ist ein Schattenwandler, das macht den meisten Angst. Dazu kommt, dass sie Leute mit schwarzem Haar nicht besonders leiden können.»
«Das macht keinen Sinn! Viele Leute haben keine Eltern oder schwarzes Haar. Ich habe auch schwarzes Haar. Das ist kein Grund, jemanden zu beschimpfen.»
Bettinas Empörung amüsiert A'shei. Er schmunzelt über ihre Aufregung.
«Menschen verhalten sich nicht immer vernünftig. Aber Namen sind wichtig und wenn du dich vor etwas fürchtest, kannst du versuchen, es mit einem Namen schlecht zu machen. Wenn es dir recht ist, werde ich dich Bettina nennen, bis wir deinen richtigen Namen herausfinden.»
«Bettina ist in Ordnung, besser als Betty oder Tina. Ich mag den Namen nicht besonders. Es war der Name der Mutter meines Vaters. Die Großmutter habe ich auch nicht gemocht. Aber ich heiße nun mal so.»
Inzwischen haben sie die Hügelkuppe oder eher Bergspitze erreicht. Sie bietet einen wunderbaren Ausblick. A'shei erklärt, wie das Land liegt, vom Frostgebirge in Nirah im Süden, über die blauen Hügel und zackigen Berge Eshtes im Westen zur großen Grasebene Lellini im Norden und dem Waldland Atara wo sie sich befinden, im Osten. Zwischen den Atara vorgelagerten Hügeln von Gerin und den Bergen von Eshte liegt die Keleniebene, das große Tal des Flusses Haon. In diesen münden viele kleinere Flüsse, die von den bewaldeten Höhen kommen. An einem davon, etwas unterhalb ihres Aussichtspunktes, liegt das Dorf Himenar. Bettina hört A'shei aufmerksam zu und versucht, die gewaltige Landschaft in sich aufzunehmen. Schließlich kann sie aber nicht mehr an sich halten.
«Ich habe von all diesen Bergen und Flüssen noch nie gehört. Wo liegt denn mein Dorf, von hier aus müssten wir es doch sehen?»
A'shei starrt sie stumm an. Er erkennt die unausgesprochene Angst in ihren Augen.
«Wie ich sagte. Der Spiegel liegt dort, in dem Tal aus dem wir aufgestiegen sind. Deine Welt dahinter kannst du von hier nicht sehen. Der Spiegel ist das einzige Tor zwischen den Welten, das ich kenne. Selbst wenn du direkt davor stehst, erkennst du nur wenige Meter des Pfades zwischen den Bäumen.»
«Tor zwischen den Welten? Bedeutet das, dass es mehr als eine Welt gibt? Wie eine andere Dimension?»
«Diese Fragen musst du Antim stellen. Ich weiß nur, was er mir erklärte. Er behauptet, deine Welt und unsere würden sich nur am Spiegel berühren. Es gibt nur wenige Wesen, die durch den Spiegel hindurchgehen können. Normalerweise ist er geschlossen und die meisten sind darüber froh. Manche erzählen Geschichten von Wesen aus deiner Welt, um Kinder zu erschrecken.»
Bettina runzelt die Stirn, alles scheint ihr so unwahrscheinlich. Aber über A'sheis letzte Bemerkung muss sie schließlich lachen.
«Das klingt, als würde ich zum Feenreich gehören. Oder ist das hier das Feenreich?»
«Was ist das Feenreich? Davon habe ich noch nie gehört.»
«Sieht so aus, als ob wir beide noch eine Menge offener Fragen haben. Warum bringst du mich nicht zu deinem Antim, wenn er derjenige ist, der die Antworten kennt?»
«Das würde ich gern, aber er ist bis zum neuen Mond unterwegs. Deine Fragen müssen warten. Hast du Hunger?»
Es muss inzwischen weit über Mittag sein und Bettina hat noch nichts gegessen. A'shei holt aus einer Tasche einen Apfel und teilt ihn mit dem Messer, das er am Gürtel trägt, in zwei Hälften. Eine davon reicht er Bettina. Obschon noch vom letzten Jahr und schon ziemlich runzlig, schmeckt der Apfel süß, besser als sie das gewohnt ist. A'shei beobachtet sie fasziniert.
«Du hast Hunger! Wenn wir im Tal sind müssen wir etwas Richtiges zu Essen für dich finden.»
Der Abstieg ist einfacher als der Aufstieg. Leichtfüßig gibt A'shei das Tempo an, aber Bettina hält mit und sie legen den Weg schneller zurück, als A'shei das dem Mädchen zugetraut hätte. Am Bach führt er es zu einer Stelle, wo es Fische gibt. Bettina schaut verblüfft zu, wie er mit der bloßen Hand rasch zwei davon aus dem Wasser holt. Sie hilft, Feuerholz zu sammeln. A'shei zündet es geschickt an indem er mit dem Rücken seines Messers und einem Stein Funken erzeugt. Bald darauf ist das Mittagessen bereit, das beide heißhungrig verschlingen. Kaum hat Bettina sich die Finger abgeleckt, steckt sie schon wieder voller Fragen.
«Das war lecker. Fängst du immer selber dein Essen?»
A'shei gibt Bettina wie immer geduldig Auskunft. So erfährt sie, dass er tatsächlich viel Erfahrung im Fischen und Jagen hat und sich während Antims Abwesenheit meist im Wald aufhält und verpflegt. Ab und zu geht er zurück zum Haus, um Antims Garten zu pflegen. Darin wächst Gemüse, aber am wichtigsten sind die Heilkräuter, wie das Nashi, an das sich Bettina von ihrer ersten Begegnung erinnert.
Die Zeit vergeht wie im Flug. A'shei zeigt ihr seine Lieblingsplätze. Sie beobachten spielende junge Füchse und schauen den Eichhörnchen zu. Das beste sind aber die Xylin. A'shei führt Bettina ganz vorsichtig an eine Stelle, von der aus sie eine Waldlichtung beobachten können. Sie traut sich kaum zu atmen. Über dem hohen Gras, das sich in einem Windhauch bewegt, schweben zahlreiche handtellergrosse Kugeln, die wie Glas aussehen. Mit ihrer irisierenden Oberfläche könnten es Seifenblasen sein, allerdings lassen sie ein leises Klingen hören, wenn sie sich bewegen und aneinander stossen.
Erst als sie sich ein Stück weggeschlichen haben, wagt Bettina zu sprechen.
«Was ist das? Sie sind wunderschön!»
«Wir nennen sie Xylin. Das sind Lichtsammler. Sie sind sehr scheu und lassen sich nur selten sehen. Tagsüber sammeln sie über den Wiesen Sonnenlicht ein. Nachts sitzen sie in den Bäumen und geben das Licht wieder ab. Warte nur, bis du das siehst!»
Bettina schaut erschrocken zur Sonne hoch, die sich schon den Wipfeln im Westen nähert.
«Mist, ich muss nach Hause. Wenn ich nicht rechtzeitig zum Abendessen zurück bin, setzt es wieder ein Donnerwetter.»
A'shei schaut sie mitfühlend an.
«Ich bringe dich zum Spiegel zurück. Aber du musst unbedingt einmal in der Nacht herkommen. Kannst du nicht später noch einmal los?»
Bettina verspricht, es zu versuchen. Allerdings fürchtet sie, dass die nächste Gelegenheit für einen Waldausflug auf sich warten lassen wird.

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