3-17 Der Sonnenkönig

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Der Sonnenkönig

Femolai liegt auf ihrer Koje und starrt mit weit geöffneten Augen die Decke an. Sie hat die Niederlage der letzten Nacht noch nicht überwunden. Normalerweise empfindet sie das Knarren der langen Riemen in ihren Dollen als beruhigend. Heute verschlimmert es ihre schlechte Laune. Talisha liegt zusammengerollt neben ihr auf den Planken, den Kopf in der buschigen weißen Rute vergraben. Die Königin empfindet Neid, als ihr Blick auf die friedlich schlafende Wölfin fällt.
Sie ließ gleich nach dem unbefriedigenden Ende des Duells das Lager abbrechen und suchte im Morgengrauen ihr Schiff auf. Ihr Ziel war es, so schnell als möglich zu ihrem Heer zu stoßen. Die Kaedin hatten am Abend zuvor gemeldet, die Krieger seien nur noch einen Nachtmarsch entfernt. Sie hoffte deshalb während dieses unsinnigen Magieduells auf das Eintreffen ihrer Verstärkung. Inzwischen ist ihr klar, dass sie das Mädchen von Silita in einem solchen Zweikampf niemals besiegen kann. Sie können beide gleichermaßen auf die Energie der Nacht zugreifen. Widerwillig muss sie sich eingestehen, dass sie auch beide gleich gut damit umgehen können. Was die eine tut, kann die andere kopieren. Zum erstem Mal versteht Femolai, warum sich die Schattenwandler in einer Gilde, einer Bruderschaft zusammengeschlossen haben. Voll ausgebildete magische Kräfte können nur bis zu einem bestimmten Punkt wachsen. Danach sind alle Magier, welche die gleiche Energiequelle benutzen, gleich stark und können sich nicht gegenseitig mit Magie zerstören. Wenn sie also ihrer jungen Konkurrentin beikommen will, muss sie auf andere Mittel zurückgreifen.
Unruhig dreht sich die Königin in ihrer Koje zur Seite. Zufällig ertastet ihre Hand ein Pergament, das sie inzwischen bereits vergessen hatte. Es muss ihr aus der Tasche gefallen sein. Es enthält die Niederschrift der Botschaft, welche ein Kae ihr vor dem Eintreffen ihrer Gegnerin brachte. Sie faltet das zerknüllte Papier auseinander, um die Botschaft zu lesen, die sie selber eilig hinkritzelte: ‹Antim verließ sein Tal und ist mit größter Eile unterwegs Richtung Honar›.
Was hat der alte Schattenwandler vor? Er verlässt sein Tal niemals freiwillig. Es muss einen wichtigen Grund geben, wenn er es jetzt tut. Ob er etwas weiß, was er seiner Schülerin unbedingt mitteilen will? Etwas was ihr in diesem Krieg helfen kann? Plötzlich fällt ihr ein, was wichtig genug sein könnte, um den alten Mann alle Vorsicht vergessen zu lassen: der magische Stein von Ureshàn! Ist es denkbar, dass Antim ihn besitzt? Wenn ja, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten...
Ein Klopfen an der Kabinentür reißt Femolai aus ihren Gedanken.
«Meine Königin? Wir haben den Ort erreicht, aber das schwarze Heer ist nicht hier.»
Die Stimme des Hauptmanns der Wache verrät seine Unsicherheit. Die Ruderschläge werden unregelmäßig und setzen dann auf einen kurzen Befehl des Steuermanns hin aus. Femolai steht irritiert auf, wickelt sich trotz der Hitze in ihren langen schwarzen Umhang und zieht sich die Kapuze tief ins Gesicht. Sie hasst das Sonnenlicht und will ihm keinen Zentimeter ihrer reinen, weißen Haut aussetzen. Talisha verlässt die Kabine vor ihr und blinzelt direkt in die Sonne. Die Wölfin hat mit dem Tageslicht weniger Mühe als ihre Herrin. Schweigend lässt diese den Blick über die Wiese schweifen, die noch vor kurzem ihrem Heer als Rastplatz diente. Wenn die Krieger nicht mehr hier sind, wo sind sie dann? Vom Fluss aus hätten sie das Heer zwingend sehen müssen, wenn es wie geplant weitergezogen wäre. Jonaim ist nicht ein Mann, der leichtfertig von Abmachungen zurücktritt. Irgend etwas muss passiert sein. Mit einer unguten Vorahnung wendet sie sich von dem verlassenen Lagerplatz ab. Sie ist sicher, dass die Hexe von Silita damit zu tun hat. Die Königin zieht die Kapuze tiefer ins Gesicht und duckt sich zurück in ihre Kabine. Ihre Stimme verrät keine Gefühlsregung, als sie kurzentschlossen eine wichtige Entscheidung trifft.
«Wir fahren weiter, hinunter zum Haon. Wir haben ein neues Ziel.»

~ ~ ~

Silàn lässt ihren Blick von ihrem erhöhten Standort aus über die Grasebene schweifen. A'shei und Noak kehrten im Morgengrauen zurück und ruhen sich nun aus, Noak in der Höhle, A'shei nur wenige Schritte von ihr entfernt zusammengerollt im Gras. Die beiden waren mit den Hrankaedí unterwegs, um Femolais Heer weiter nach Süden zu treiben.
Von den Nsilí weiß Silàn, dass Femolai mit ihrem Schiff flüchtete und nicht einmal versuchte, sich mit ihrem Heer in Verbindung zu setzen. Die Hrankaedí wechseln sich nun mit den Nsilí in der Beobachtung des Schiffs wie auch der drei Heere während der Nachtstunden ab. Die beiden unterschiedlichen Völker haben sich zur bedingungslosen Zusammenarbeit entschlossen. Die Hrankaedí übernahmen unter der Führung von Noak zudem die Aufgabe, Femolais Heer daran zu hindern, ins Grasland von Linar zurückzukehren. Wenn die Krieger tagsüber nach Norden zogen, jagten die Drachenschatten sie um so schneller in der Nacht wieder nach Süden. Zweimal versuchte das Heer, sich zu stellen. Beide Male mussten die Krieger rasch einsehen, dass sie gegen die Wesen der Dunkelheit nicht bestehen konnten. Auf Verluste angesprochen, schnaubte Noak verächtlich und meinte, sie könne nichts dafür, wenn sich die Krieger freiwillig ins Feuer werfen würden. A'shei zuckte dazu nur die Schultern und senkte den Blick. Die Erinnerung setzte ihm zu. Silàn seufzt beim Gedanken an diese Szene. Obwohl ihr am liebsten wäre, wenn überhaupt niemand verletzt würde, ist ihr klar, dass weder Femolai noch ihr Heer zu Pentim stoßen dürfen.
Das Heer der Lelliní hat inzwischen ein großes Feldlager eingerichtet und wartet zuversichtlich auf die Gegner aus Kelèn, die jeden Moment eintreffen müssten. Silàn kann das Lager von ihrem Beobachtungspunkt aus überblicken. Geordnete Reihen von Zelten überziehen die Flanken des Hügels. Dazwischen herrscht ein buntes Treiben, Krieger schärfen ihre Waffen und sitzen plaudernd um die Kochfeuer oder bereiten sich stumm auf die bevorstehenden Kämpfe vor. Etwas seitlich zurückgesetzt liegt das farbenfrohe Lager von Hehamas Tannarí. Manchmal trägt der Wind von dort das Lachen und Kreischen von Kindern an Silàns Ohr. Nur zu gern würde sie ihre Freunde besuchen. Aber sie weiß, dass sie Pentim gegenüber Neutralität beweisen muss, wenn sie etwas ausrichten will. Es darf auf keinen Fall wirken, als stehe sie auf Seiten der Tannarí oder der Lelliní. Sie hofft, dass ihre Freunde diese Entscheidung verstehen.

SilànWhere stories live. Discover now