3-6 In der Schlucht von Ramenar

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In der Schlucht von Ramenar

Dánan zieht den Schal enger um die Schultern und rückt den Riemen ihrer Tasche zurecht. Es ist kalt, so früh am Morgen. Langsam lässt sie den Blick über das Tal des Haon schweifen, das sich im ersten Tageslicht tief unter ihnen ausbreitet. So weit am Oberlauf ist der Fluss noch wild und schmal im Vergleich zu dem mächtigen Strom, zu welchem er unten in der Keleniebene wird. Sie wendet sich Silàn zu, die neben ihr auf der Felsnase in die Ferne blickt.
«Woran denkst du, Tochter der Nacht?»
Silàn zuckt die Schultern. Sie hat sich gefragt, wie weit es von hier bis ans Meer in Lellini ist, weit im Norden. Ob sie wohl jemals dorthin kommen wird? Ranoz könnte sie bestimmt bis dahin tragen... Mit einem Lächeln wendet sie sich an die Tanna.
«Verzeih mir, ich war am träumen. Ich dachte darüber nach, wie riesig dieses Land ist.»
Bevor die Schattenwandlerin etwas erwidern kann, hören die beiden Frauen A'sheis gut gemachte Imitation des Rufs eines Waldkauzes, der als Erkennungszeichen dient. Der Jäger signalisiert ihnen von weiter oben am Hang, über welches Felsband sie hochklettern sollen. Er ist ein zuverlässiger Führer. Als Silàn und Dánan bei ihm anlangen meint er zuversichtlich, er hätte wohl den Zugang zur Schlucht der Mondlichter gefunden. Vollmond ist erst in drei Tagen, sie sind also etwas zu früh, aber vor ihnen liegt noch der Abstieg in die Schlucht.

A'shei und Silàn verbrachten die ersten Tage des neuen Jahreszyklus bei ihren Freunden und genossen es, unter Menschen zu sein, die sie ungeachtet von Haar- oder Augenfarbe akzeptierten. Für die Einwohner von Ramenar waren sie Mitglieder von Tòmanis Truppe. Dieser mietete Zimmer in einem Gasthof und wie selbstverständlich wurden die beiden eingeladen, auch dort zu wohnen. Silàn genoss seit langer Zeit wieder einmal ein heißes Bad und behauptete anschließend, jetzt erst sei sie den Schmutz aus Femolais Kerker losgeworden. Mila, der diese Bemerkung aufschnappte, wollte natürlich sofort die ganze Geschichte hören. Es kostete die junge Frau Mühe, ihre Abenteuer altersgerecht für seine Ohren zusammenzufassen. Sari und Dánan, welche der Erzählung gespannt folgten, blickten sich nachdenklich an. Silàns Bericht war mehr als eine Gutenachtgeschichte. Nachdem Mila eingeschlafen war, rätselten sie gemeinsam darüber, wo diese geheimnisvolle Schlucht der Nsilí liegen könnte. Dánan hatte bereits davon gehört, wusste aber nicht, ob es sich um einen tatsächlichen Ort oder eine Legende handelte. Deshalb hörten sich Tòmani und Fenesh in der Gaststube und Dánan bei ihren Krankenbesuchen unauffällig um.
Schließlich fand die Schattenwandlerin die richtige Spur. Einer ihrer Patienten war gerne bereit, sein Wissen mit einer aufmerksamen Zuhörerin zu teilen. Der alte Mann berichtete von einer kaum zugänglichen Schlucht des Haon in den Bergen hinter Ramenar. Er behauptete, er hätte als Junge in einem kreisrunden Talkessel im Zentrum der Schlucht heimlich die Mondlichter beim Tanz beobachtet. Dánan ließ sich den Weg zu diesem Ort ausführlich beschreiben. Am nächsten Tag zogen A'shei und Fenesh los, um den Einstieg des Weges zu suchen. Sie fanden ihn ziemlich genau dort, wo der Mann ihn beschrieben hatte. Der Pfad war überwachsen und schon lange nicht mehr benutzt, aber nachdem sie ihm ein gutes Stück gefolgt waren, bestand kein Zweifel. Die beiden jungen Männer kehrten ins Dorf zurück, wo Silàn und Dánan inzwischen alles für eine Expedition in die Schlucht vorbereitet hatten. Die Schattenwandlerin bestand darauf, A'shei und Silàn zu begleiten, zumindest bis zum Einstieg in die Schlucht. Sie konnte keinen Grund dafür angeben, außer dass ihr Gefühl sagte, dies sei wichtig. A'shei war immer geneigt, den Gefühlen eines Mitglieds der Schattenwandlergilde zu trauen und schließlich willigte auch Silàn ein. Es konnte nicht schaden, wenn eine weitere Magierin mit ihnen zog, selbst wenn sie dadurch tagsüber reisen mussten. Dánan und Sari sorgten für eine warme Winterausstattung und genügend Vorräte, um nicht auf die Jagd angewiesen zu sein. Sari würde während ihrer Abwesenheit auf Dánans Wagen und Habseligkeiten aufpassen. Der Mond stand im ersten Viertel, als sie sich von ihren Freunden verabschiedeten, um die sagenumwobene Schlucht der Nsilí zu suchen.

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