1-6 Silàn von Silita

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Silàn von Silita

«Bettina, Zeit für die Schule! Komm, frühstücken.»
Obwohl sie hellwach ist, gibt sich Bettina Mühe, ihre Antwort verschlafen klingen zu lassen. Allerdings wohl erfolglos, hört sie doch den Onkel murmeln, wie sehr er es schätzen würde, wenn Stefan auch so ein Morgenmensch wäre. Rasch zieht sie sich an und geht hinunter zum Frühstück. Trotz der schlaflosen Nacht fühlt sie sich nicht müde, aber dafür hat sie richtig Appetit. Angelika erläutert fröhlich ihre Pläne für diese Woche, während Stefan immer noch nicht aufgetaucht ist. Schließlich holt die Tante ihn persönlich. Bettina hilft Angie unterdessen in die Jacke und die Mädchen machen sich auf den Weg zur Schule, obwohl es eigentlich noch zu früh ist. Aber Bettina ist es recht, mit Angie gemütlich ins Dorf zu schlendern. Immer wieder blickt sie unterwegs hinüber zum Wald. Am liebsten würde sie loslaufen und A'shei suchen. Der Junge ist ihr noch tausend Antworten schuldig. Und natürlich möchte sie Silmira genausoviele Fragen stellen. Trotzdem, wenn nicht ihr Fuß vom Fehltritt im Bachbett noch schmerzen würde, könnte sie die ganze letzte Nacht für einen Traum halten.
In der Schule bekommt sie heute nicht viel mit. Sie schaut die meiste Zeit aus dem Fenster und träumt mit offenen Augen vor sich hin. Silmiras Geschichte stimmt erstaunlich gut mit dem wenigen überein, was sie von der Nacht vor fast fünfzehn Jahren weiß, als ihre Mutter ums Leben kam. Auch wenn die Namen falsch sind und für Bettinas Geschmack zuviel von Prophezeiungen und Magie die Rede war. Aber der Gesang der Nsilí kam ihr seltsam vertraut vor. Und Silàn - es ist tatsächlich, als hätte sie den Namen schon gehört. Silàn. Leise sagt sie es vor sich hin.
«Bettina, möchtest du uns etwas sagen?»
Die Worte von Frau Schneider lassen sie zusammenfahren. Sie ist die beste Lehrerin, die Bettina hier hat, und eigentlich interessiert sie sich ja für Geographie. Aber im Moment hat sie keine Ahnung, wovon im Unterricht die Rede ist. Sie schüttelt deshalb nur stumm den Kopf und ist froh, dass die Lehrerin sie nur nachdenklich anschaut und nicht weiter auf den Vorfall eingeht. Aber nach der Stunde bittet Frau Schneider sie zu sich.
«Bettina, was ist heute mit dir los? Du bist doch sonst nicht so unaufmerksam.»
Sie erklärt zögernd, sie hätte letzte Nacht nicht gut geschlafen, es würde nicht wieder vorkommen. Frau Schneider nickt und lässt sie gehen. In den folgenden Stunden gibt sie sich Mühe, besser bei der Sache zu sein, allerdings mit mäßigem Erfolg. Vor ihrem inneren Auge sieht sie immer wieder den Tanz der Nsilí, hört ihren Gesang und darin verwoben Silmiras warme Stimme.
Bettina ist froh, als die letzte Stunde vorbei ist und rennt nach Hause. Dort erklärt sie dem Vater und Judith, die in der Küche sitzen, sie sei müde und müsse Hausaufgaben machen. Damit verzieht sie sich auf ihr Zimmer, um mit aufgestütztem Kopf viel zu lang über ihrer Rechenaufgabe zu brüten. Schließlich gibt sie sich mit dem Resultat zufrieden und legt sich aufs Bett. Sobald ihr Kopf das Kissen berührt, ist sie auch schon eingeschlafen.
Sie wird von Stefan, der zum Abendessen ruft, unsanft aus einem lebendigen Traum gerissen. Bettina kann sich nur noch an einzelne Fetzen erinnern, ist aber sicher, dass sie mit A'shei noch einmal im Mondlicht über den Wasserfall kletterte. Während der Mahlzeit ist sie schweigsam und Onkel Andres fragt, ob sie krank werde. Die Tante meint, das komme vom Herumrennen im Regen und will sofort wissen, wie sich Angelika fühlt. Diese ist aber ausgesprochen munter und als Bettina erklärt, es sei ein schwieriger Tag gewesen und sie sei nur müde, lässt man sie gewähren. Sie wünscht eine gute Nacht und legt sich schlafen, obwohl es draußen noch hell ist.
Sie erwacht nur wenige Stunden später und fühlt sich hellwach und ausgeschlafen. Der fast volle Mond steht über dem östlichen Horizont und scheint ins Zimmer. Bettina will aufstehen, als ein Geräusch sie verharren lässt. Leise öffnet sich die Tür und jemand steckt den Kopf ins Zimmer. Im Mondlicht erkennt Bettina den Vater. Rasch schließt sie die Augen.
«Tina?»
Die Stimme des Vaters ist leise und besorgt. Sie hält die Augen geschlossen und versucht, langsam und ruhig zu atmen. Eine Antwort gibt sie nicht. Leise schließt sich die Tür und Bettina atmet auf, obwohl sie bisher noch gar nichts Verbotenes getan hat. Erst nach einigen Minuten traut sie sich, aufzustehen. Geräuschlos zieht sie sich an. Heute hat sie die Turnschuhe und eine Jacke beim Zubettgehen mit aufs Zimmer genommen. Als sie durchs Fenster hinausklettert, erkennt sie drüben im Wohnzimmer Licht, der Fernseher läuft. Sehr vorsichtig schleicht sie über das Dach des Anbaus und klettert in den Apfelbaum. Heute geht es schon leichter, weil sie den Weg inzwischen kennt. Sie atmet aber erst wieder richtig frei, als sie den Waldrand erreicht. A'shei wartet am Tor.

SilànDonde viven las historias. Descúbrelo ahora