3-7 Heimkehr

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Heimkehr

Die Kirschbäume blühen und die Vögel lassen ein fröhliches Lied erklingen. Längst sind die letzten Reste das schmutzigen Schnees am Wegrand geschmolzen und alles sprießt frisch und grün. Mila tollt mit den anderen Kindern neben dem Weg durchs Gras. Sie spielen kreischend Fangen, genießen die warme Sonne und spüren den Frühling wie die Natur um sie herum. Silàn liebt diese Jahreszeit. Sie geht neben Dánans Wagen und plaudert mit der Schattenwandlerin, zum Schutz ihrer Augen den Hut tief ins Gesicht gedrückt. In den letzten Monden lernte sie vieles von der Tanna. Ihre Magie mag verschieden sein, aber von Dánans Lebenserfahrung und ihrem Wissen kann die junge Erbin von Silita nur profitieren. Dánan erklärte ihr zahlreiche Zusammenhänge. Sie versteht nun besser, wie es zu den Konflikten um das Königreich der Nacht kam.
Femolai ist alt, viel älter, als Silàn das nach ihrer Begegnung in Penira für möglich gehalten hätte. Seit Generationen versucht sie, eine Machtposition an der Seite der Sonnenkönige zu erringen. Aber Pentims Vater und Großvater liessen sich von der ehrgeizigen Magierin nicht beeinflussen. Sie stellten sich auf den Standpunkt, das Königshaus Diun sei für die Sonnenkinder zuständig, das Haus Silita für die Wesen der Nacht. Tatsächlich mischte sich seit des uralten Bundes zwischen Ureshàn von Silita und Mirim von Diun keines der großen Häuser in die Angelegenheiten des anderen ein. Zur Zeit der Regierung von Silàns Großmutter Haonàn erkannte Femolai ihre große Chance. Haonàns einzige Tochter Tanàn war nicht daran interessiert, ihre magische Ausbildung abzuschließen und die Nachfolge ihrer Mutter anzutreten. Es gelang Femolai, sie durch ein magisches Tor aus dieser Welt zu verbannen. Etwa gleichzeitig fiel Pentims Vater im Krieg der Kälte gegen die Tannarí und Lelliní. So starb Haonàn von Silita ohne Erbin und kurz darauf trat der junge Pentim die Nachfolge seines Vaters an. Femolai begann, ihre Fäden zu spinnen und errang das Vertrauen des unerfahrenen Königs. Sie überzeugte ihn, dass sie allein in der Lage sei, den verwaisten Thron der Königin der Nacht zu übernehmen. Viele Völker der Nacht lehnten es ab, Femolai Gefolgschaft zu schwören. Die Königinnen des Hauses Silita standen im Ruf, gerecht zwischen den Völkern der Dunkelheit zu vermitteln und Streitigkeiten zu schlichten. Femolai vertrat vor allem ihre eigenen Interessen. Die Xylin und die Hrankaedí akzeptierten sie deshalb nie.
Unter den Menschen standen traditionell die Tannarí dem Haus Silita am nächsten. Entgegen dem Rat von Haonàn waren sie aber an der Seite der Lelliní in einen Krieg gegen das Haus Diun gezogen. Nachdem sie in diesem kurzen Winterkrieg, der später den Beinamen ‹Krieg der Kälte› erhielt, vernichtend geschlagen und dezimiert worden waren, zogen sich die überlebenden Tannarí in unwirtliche Gegenden wie Eshekir oder Sellei zurück, um unter sich zu bleiben, oder lebten als fahrende Händler im Reich Pentims.
Silàn seufzt. Trotz des schönen Frühjahrswetters belastet sie der Gedanke an die Verantwortung, die sie als Haonàns Erbin trägt.

A'shei zeigt Fenesh nicht ohne Stolz seine Heimat Atara. Die beiden haben sich auf dem langen Weg von Nirah angefreundet. Fenesh bewundert A'sheis Geschick mit dem Bogen, und A'shei liebt es, wenn der fröhliche Kelen von seinen Erlebnissen auf den Reisen kreuz und quer durch das Land berichtet. Seine Eifersucht hat er längst abgelegt. Silàn mag Fenesh zwar, aber A'shei ist sich inzwischen sicher, dass er von dem jungen Händler keine Konkurrenz befürchten muss. Vor wenigen Tagen, als er in der Vollmondnacht seine Wachrunden um das schlafende Lager zog, tauchte Silàn lautlos aus dem Nebel auf, der über den Wiesen lag. Wie immer, wenn der Mond am Himmel stand, fand sie keinen Schlaf und zog es vor, A'shei auf seiner Runde zu begleiten.
Sie sprachen leise über ihre Erlebnisse in der Schlucht von Ramenar. Silàn und A'shei erreichten damals nach ihrem unerfreulichen Erlebnis mit den Nsilí bei Sonnenhöchststand den Ausstieg aus der Schlucht, wo Dánan wartete. Ihr Schattenwall hatte gehalten, obwohl zeitweise ein Rudel Wölfe den Zugang zur Schlucht belagerte. Sie verbrachten deshalb den Rest des Tages und die folgende Nacht im magisch geschützten Bereich, bis die Wölfe weiterzogen. Erst dann verließen sie bei Tageslicht ihr Versteck, nur um sich noch vor Nachteinbruch an einer geeigneten Stelle einen neuen Schutzwall aus Schattenmagie zu errichten. So kehrten sie vorsichtig und langsam ins Dorf Ramenar zurück.
Als Tòmani ihre Geschichte hörte, war er sofort bereit, den Aufenthalt abzubrechen und trotz des Schnees in Richtung Atara zu ziehen. Silàn und A'shei wollten das Angebot nicht annehmen, sie waren der Meinung, allein schneller vorwärts zu kommen. Aber schließlich überzeugte Dánan mit dem Argument, der Wagenzug sei unauffälliger und biete besseren Schutz vor Spähern Femolais. Trotzdem bestand Tòmani in Zukunft auf doppelten Nachtwachen und ließ die Wagen vorzugsweise in der Nähe menschlicher Ansiedlungen halten.
Silàn und A'shei betrachteten die Begegnung mit den Händlern als Glücksfall. Mehr als einmal spürte Silàn flüchtig die Nähe von Kaedin oder anderen Wesen der Nacht. Aber sie schienen den Wagenzug nicht zu beachten. Silàn hütete sich, ihre Magie zu benutzen. Um sich während der langen und ruhelosen Nachtstunden zu beschäftigen, arbeitete sie an der Schnitzerei, die sie seit Monden mit sich herumtrug und in Penira verloren geglaubt hatte. In dieser letzten Vollmondnacht drehte sie sich auf einmal A'shei zu und drückte ihm das kleine Kunstwerk in die Hand.
«Hier, für dich, als Dankeschön, dass du mich niemals allein gelassen hast und mit mir diese Reise durchstehst.»
A'shei betrachtete erstaunt den Anhänger, den er in der Hand hielt. Ein schlankes Blatt umschloss eine kleine Kugel in einer perfekten Schwingung. Silàn hatte das dunkle Holz glatt poliert und an der Spitze des Blatts ein kleines Loch angebracht, um einen schmalen Lederriemen durchzuziehen. A'shei trägt das kostbare Geschenk seither unter seinem Hemd um den Hals. Als Fenesh an diesem ersten Frühlingstag den Anhänger zufällig bemerkt, weiten sich seine Augen.
«Sie hat dir ihr Blatt geschenkt. Weißt du wieviele Stunden sie daran arbeitete? Darin steckt bestimmt mehr Magie und Liebe, als in allem zusammen, was wir in unseren Wagen mitführen.»
A'shei lächelt nur. Er versteht die Bedeutung des Geschenkes sehr gut.

SilànWhere stories live. Discover now