3-3 Die Höhlen von Silita

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Die Höhlen von Silita

A'shei nimmt das Seil und prüft, ob der Knoten hält. Dann lässt er sich vorsichtig in das Loch hinuntergleiten, das sich zwischen den Wurzeln Silfanus öffnet. Mit der linken Hand hält er sich am Seil fest, während er mit der rechten die Wand abtastet. Das Loch führt zunächst senkrecht nach unten. Die Erde, welche von zahllosen Wurzeln durchzogen ist, scheint nicht sehr tief zu sein. Darunter folgt bröckliger Fels, welcher fast sofort von hartem, glattem Kalkstein abgelöst wird. Seine Oberfläche ist künstlich bearbeitet. Der Junge ist noch nicht weit gekommen, als er mit dem Fuß eine ebene Fläche ertastet. Es ist die erste Stufe einer Treppe, welche weiter in den Berg hinunterführt. Hier an ihrem Anfang gibt es einen kleinen Raum.
A'shei blickt hoch zum Einstieg, der sich knapp eine Armlänge über seinem Kopf befindet. Silàn kniet am Rand und blickt den jungen Tanna mit silbernen Augen fragend an.
«Und, wie ist es da unten?»
«Dunkel! Aber hier fängt eine Treppe an und der Schacht wird weiter. Ihr könnt herunterkommen!»
Silàn blickt zum Mond hoch. Es ist noch früh, sie haben fast die ganze Nacht Zeit. Kurzentschlossen packt sie das Seil und lässt sich in die Höhle hinuntergleiten. Ranoz folgt ihr unverzüglich. Er muss auf seine Schattengestalt zurückgreifen, um sich durch den schmalen Eingang zu schieben. A'shei tritt auf dem Treppenabsatz zur Seite und beobachtet den Vorgang fasziniert. Der Drachenschatten verfestigt sich in der kleinen Kammer mit einem zufriedenen Rumpeln.
«Es hat Vorteile, zu den Wesen der Dunkelheit zu gehören.»
A'shei lacht. Er beginnt, Ranoz' trockenen Humor zu schätzen. Silàn blickt sich unterdessen in der kleinen Kammer um. Sie ist in den Felsen geschnitten und besitzt ein gewölbtes Dach. Der Zugangsschacht befindet sich seitlich neben den Treppenstufen, die A'shei bereits entdeckte. Offensichtlich wurden die obersten Stufen, die bis zur Erdoberfläche reichten, absichtlich herausgebrochen um den Zugang zu zerstören. Dieser wurde anschließend verfüllt und erst durch das Umstürzen des Mondbaums wieder sichtbar.
Die Treppe führt steil durch einen Gang abwärts, tiefer in den Berg hinunter. Aus dem Stollen heraus ist ein leichter Luftzug spürbar. Ranoz hält seine empfindliche Nase hoch.
«Ich rieche Wasser. Der Luftzug bringt viel Feuchtigkeit mit. Deshalb bildet sich oben Nebel.»
«Das, und die Wärme hier drin. Ich finde, es ist deutlich angenehmer als draußen.»
A'shei nickt nur zu Silàns Bemerkung. Er steht auf der zweitobersten Treppenstufe und macht sich bereit, weiterzugehen.
«Brauchen wir Licht, oder können wir hier unten auch ohne direktes Mondlicht sehen?»
Silàn ist nicht aufs Mondlicht angewiesen, um in der Nacht zu sehen. Aber sie ist wie Ranoz ein Wesen der Nacht und hat Anteil an deren speziellen Begabungen. Einmal mehr scheint der Drachenschatten ihre Gedanken zu lesen.
«Der Sternenwanderer sieht mit der Mondmagie Silfanus. Aber ich schenkte ihm genug Energie der Nacht, dass er hier unten zurechtkommen sollte. Wenn nicht, kannst du immer noch ein magisches Licht anzünden.»
«Bis jetzt geht es ganz gut. Ich glaube, ich muss mich erst daran gewöhnen, dass ich nun zu euch Nachtwesen gehöre.»
Der junge Schattenwandler macht sich entschlossen auf den Weg. Silàn und Ranoz folgen ihm. Es ist vollkommen ruhig, nur das Kratzen der Krallen des Hrankae auf den glatten Kalkstufen ist zu hören. A'shei geht vorsichtig voran, den Bogen gespannt und einen Pfeil bereit. Die Treppe endet in einem Stollen. Dieser führt gewunden tiefer in den Berg hinein. Anfänglich noch klar von der Hand eines Steinmetzes geschaffen, mit rechtwinkligen Konturen, wirkt er allmählich unregelmäßiger, bis sie sich durch eine natürliche Spalte im Felsen bewegen. Sie schrecken einen Schwarm Fledermäuse auf, die mit schrillem Zirpen ihren Zufluchtsort an der Höhlendecke verlassen. Silàn tut es leid, die schlafenden Wesen gestört zu haben. Einmal mehr überrascht Ranoz sie damit, dass er ihre Gedanken errät.
«Sie sind Wesen der Nacht, Ahranan, wie du und ich. Die Fledermäuse wählten im Streit zwischen Femolai und dem Haus Silita nie eine Seite. Aber sie werden dich niemals verraten, wenn du ihnen ihre Freiheit lässt.»
«Warum sollte ich ihnen die Freiheit nehmen? Alle Wesen der Nacht sollten frei sein. Also auch Drachenschatten und Fledermäuse.»
«Die Hrankaedí leisteten ihren Dienst immer freiwillig. Andere Völker der Nacht waren nicht so glücklich.»
«Sprichst du von den Kaedin?»
«Von ihnen und anderen. Wenn es wieder Freiheit für alle Wesen der Dunkelheit gibt, ist deine Aufgabe erfüllt, Ahranan.»
Silàn seufzt. Ja, wenn alle Wesen der Nacht frei sind, wenn sie einen Schlüssel geschmiedet, einen Fluch gebrochen und außerdem noch den Mondbaum zum Blühen gebracht hat. Warum muss sie eigentlich diejenige sein, die alles Unmögliche möglich machen soll? Aber auch diesen Gedanken fängt Ranoz auf. Er klingt belustigt.
«Gut so, Ahranan. Wir brauchen jemanden, der bereit ist zu kämpfen, aber auch zu zweifeln.»
A'shei unterbricht das Gespräch. Er ist einige Schritte voraus und hält oberhalb eines steilen Abhang an.
«Ich glaube, hier hinunter führt ein Pfad. Er war einmal ausgebaut. Ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg.»
Vorsichtig beginnt er mit dem Abstieg. Silàn macht sich Sorgen um seine Sicherheit. Sie hätten das Seil mitnehmen sollen. In ihrer offenen Hand entzündet sie eine kleine magische Flamme, um den Weg zu beleuchten. Ihre Wirkung ist völlig unerwartet.
Das silberblaue Licht in Silàns Hand wird tausendfach reflektiert von den Höhlenwänden und unzähligen Tropfsteinen, die von der Decke hängen und vom Boden aufsteigen. Die Entdecker bleiben überrascht stehen. Je tiefer sie in die Höhle hineinblicken, desto prächtiger sind die Formationen. Das im Lauf der Jahrhunderte durch Ritzen im Kalkstein sickernde Wasser wusch Kalk und Mineralien aus dem Fels aus und lagerte sie in fantastischen Formen in der Höhle wieder ab. Der Sinter glitzert wie Schneekristalle in Silàns Licht. Verzaubert blickt sich die junge Ahranan um.
«Diese Höhle ist wunderschön. Hast du gewusst, dass es hier so etwas gibt, Ranoz?»
Der Drachenschatten schüttelt verneinend den Kopf.
«Nein, wenn Silàn die Ältere oder eine ihrer Nachfolgerinnen etwas davon wusste, haben sie es mir nie gesagt. Ich denke aber, dass es Gründe gab, dieses Geheimnis zu hüten. Ureshàn versiegelte die Höhle bestimmt nicht ohne Absicht.»
«Das mag sein. Aber weshalb konnten wir den Eingang so einfach finden, wenn es so wichtig war, ihn zu verbergen?»
«Ich weiß darauf keine Antwort, Ahranan. Außer, dass ein Zeitalter vorbei ist und ein neues anbricht, mit einer neuen Königin und einem neuen Mondbaum.»
«In diesem Fall hoffe ich nur, dass das alles nicht den Beginn von Femolais Herrschaft symbolisiert und wir zu ihrem Vorteil hier unterwegs sind. Ich kann sie wirklich nicht leiden. Kommt, lasst uns weitergehen.»
A'shei übernimmt die Führung. Silàn hält das magische Licht am Brennen. Nicht weil sie es brauchen, um den Weg zu erkennen, sondern weil die Höhle in seinem Glanz wunderschön aussieht. Sie folgen einem Pfad, der von großen Stalagmiten fast unpassierbar gemacht wird. Er wurde schon sehr lange nicht mehr benutzt. Ab und zu müssen sie über umgestürzte Säulen klettern oder sich zwischen eng stehenden Tropfsteinen durchquetschen. In solchen Momenten überwindet Ranoz die Hindernisse mit mächtigen Sprüngen. Der Platz ist aber zu eng, als dass er seine großen Flügel einsetzen könnte. A'shei und Silàn bewundern trotzdem die Geschicklichkeit und Eleganz ihres Begleiters.
Sie folgen dem Pfad tiefer in das Labyrinth der Höhle. Als Silàn fragt, ob A'shei sicher sei, auch den Rückweg wieder zu finden, lacht dieser.
«Nun, solange wir auf diesem markierten Weg bleiben, finden wir bestimmt zurück. Allerdings rate ich davon ab, den Pfad zu verlassen oder die Wegweiser zu verändern.»
Erst jetzt bemerkt die junge Frau die unauffälligen Markierungen, welchen A'shei folgt. Es handelt sich um kleine Flusskiesel, die sich deutlich vom hier vorherrschenden weißen Kalkstein unterscheiden. Jemand muss sie mit Absicht und viel Aufwand so angeordnet haben, dass sie zuverlässig den Weg durch das Labyrinth weisen. Silàn fröstelt beim Gedanken daran, dass jemand diese Steine entfernen könnte, während sie sich in der Höhle aufhalten. Ranoz, der ihre Gedanken zu lesen scheint, lässt ein belustigtes Rumpeln hören.
«Die Steine sind mit magischer Energie geladen, spürst du es nicht? Wenn jemand sie verschiebt, muss er mit einer unangenehmen Überraschung rechnen.»
Nun, da sie weiß, worauf sie achten muss, nimmt Silàn den Bann in den Steinen wahr. Langsam nähert sie ihre offene Hand einer Markierung. Es ist eine uralte Magie, die von dem kleinen Stein ausstrahlt, vergleichbar dem Bann in den Mauern von Peniras Verliesen. Allerdings spürt sie vor allem den Wunsch, den Weg zuverlässig zu kennzeichnen. Aber Ranoz hat recht, tiefer liegt ein weiterer Bann, der dem Zerstörer der Wegweiser nichts Gutes verheißt. Silàn versteht nicht, warum es so wichtig war, die Höhle zu verstecken, wenn gleichzeitig vom Eingang her eine deutliche Spur in ihre Tiefen führt. Auf jeden Fall schenkt sie im Weitergehen ihrer Umgebung mehr Aufmerksamkeit, als sie es zunächst tat.
Sie durchqueren weitere Engstellen und große Hallen. Silàn verliert jedes Zeitgefühl. So tief in der Erde ist auch der Mond für sie nicht mehr wahrzunehmen.

SilànWhere stories live. Discover now