1-10 Magie von Licht und Dunkelheit

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Magie von Licht und Dunkelheit

Die nächste Woche vergeht wie im Flug. Bettina versucht, in der Schule aufmerksam mitzumachen, damit sie beim anstehenden Elterngespräch nicht schlecht dasteht und zuhause Ärger bekommt. Ihre Nächte verbringt sie im Wald mit A'shei und den Xylin. Am Freitagabend steigen sie zu Antim ins Tal hinauf. Er freut sich über den Besuch und nimmt bei Kerzenlicht die unterbrochene Schreiblektion auf. Die Schrift der Schattenwandler sei wichtig, um die grundlegenden Bücher über Magie zu verstehen. In seinem Haus steht ein Regal mit alten Handschriften, alle in Leder gebunden und bestimmt sehr kostbar. Die Stunden vergehen, ohne dass das Mädchen müde wird. A'shei zeigt, wie es mit einer angespitzten Feder und schwarzer Tinte selber die Zeichen malen kann. Es ist geschickt darin und schafft es rasch, die Zeichen für Mond und Tochter richtig zusammenzufügen. Antim schmunzelt.
«Silàn, Tochter des Mondes. Das ist dein wahres Zeichen.»
Die Schrift scheint auf dem Papier zu glühen. Erschrocken starrt A'shei sie an.
«Wie hast du das gemacht? Du hast dem Zeichen Leben gegeben!»
Antim nickt, und erklärt, dies sei die Kraft, die langsam in Silàn erwache. Es würde Zeit brauchen, sie zu entwickeln, aber ein erster Anfang sei gemacht. Sie betrachtet nachdenklich das glühende Zeichen und streicht mit dem Finger sanft darüber. Sofort leuchtet es noch heller. Ihr leises Flüstern ist für Antim und A'shei kaum zu vernehmen.
«Silàn. Das ist mein Name. Das bin ich.»
Antim schaut das Mädchen lange schweigend an. Zum ersten Mal beginnt Silàn zu verstehen, dass weit mehr hinter der Geschichte ihrer Geburt steckt als sie bisher wahrhaben wollte. Draußen verfärbt sich der Himmel im Osten grau, die Dämmerung ist nahe. Entschlossen steht sie auf.
«Es ist Zeit, ich muss gehen. Ich muss endlich mit meinem Onkel sprechen. Darf ich hierher zurückkommen? Wirst du mich lehren, meine Kraft richtig zu nutzen?»
Antim nickt freundlich.
«Du bist immer willkommen, Silàn, und ich werde deine Fragen beantworten so gut ich kann. Deinen Weg musst du selber finden, aber meine Tür steht dir offen.»
Zusammen mit A'shei macht sie sich auf den Heimweg. Der Junge ist schweigsam, aber als sie ihn fragt, was nicht in Ordnung sei, schüttelt er den Kopf.
«Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur müde. Ich bin kein Wesen der Nacht wie du. Dein Zeichen war wunderschön, die Formen passten perfekt zusammen. Du bist begabt.»
«Ich weiß nicht, was ich gemacht habe. Ich glaube, die Zeichen wollten einfach von sich aus richtig sein und fügten sich deshalb zusammen.»
«Das ist, was Antim immer über Magie sagt: manche Dinge wollen richtig und schön sein. Der Magier muss ihnen nur Gelegenheit geben, die richtige Form zu finden.»
«Nun, dann war es vielleicht tatsächlich Magie. Aber ich weiß nicht, ob ich das jemals wiederholen kann.»
«Ich bin sicher, dass du es kannst. Lass dir Zeit. Antim wird dir helfen und natürlich Silmira und die Xylin. Wenn du möchtest, werde ich auch tun, was ich kann.»
«A'shei, ohne dich wäre ich überhaupt nie soweit gekommen. Ich schulde dir bereits so viel. Und ich habe jedesmal ein schlechtes Gewissen, wenn du wegen mir die ganze Nacht aufbleibst. Wie machst du das überhaupt?»
«Ich habe meine eigene Magie. Nicht so stark wie deine, aber ich stamme von den Tannarí ab, den Kindern der Dämmerung. In diesen Stunden zwischen Tag und Nacht schöpfe ich aus dem Wechsel von Licht und Dunkelheit Kraft. Antim hat es mich gelehrt, er ist ein Meister dieser Dinge, ein wahrer Schattenwandler. Ich werde ihm nie gleichkommen. Aber um mit wenig Schlaf auszukommen, reicht es. Die Tannarí galten als besonders ausdauernde Jäger und Kundschafter.»
«Auch Krieger?»
«Bestimmt auch Krieger. Aber soviel ich weiß hielten sie sich meistens aus den Konflikten zwischen den großen Königshäusern heraus.»
«Wie weißt du, dass du Tannarí bist, wenn du deine Eltern nicht kennst?»
«Nun, schwarzes Haar und blaue Augen, das ist deutlich. Sonnenkinder haben helles Haar und blaue Augen, selten dunkles Haar und braune Augen. Aber meines ist richtig schwarz. So schwarz, dass sich die Leute im Dorf vor mir fürchten. So schwarz wie deines, und du bist eine Mondtochter.»
«Aber meine Augen sind grau, richtig langweilig. Gehört das auch dazu?»
A'shei lacht.
«Grau und langweilig? Sie sind silbern wie das Mondlicht. Und du siehst damit in der Nacht so gut wie am Tag. Wenn der Mond scheint oder die Xylin tanzen, leuchten sie wie die Augen der Nsilí. Selbst ohne Silmiras Geschichte sieht jeder, dass du mit dem Königshaus der Nacht verwandt bist!»
Silàn wird nachdenklich. Stimmt es, dass sie in der Nacht genauso gut sieht wie am Tag? Sie hat sich in den letzten Tagen so daran gewöhnt, mit wenig Schlaf auszukommen, dass ihr diese zusätzliche Seltsamkeit kaum aufgefallen ist. Sie weiß auch nicht, ob sich ihre Nachtsicht veränderte. Vielleicht sah sie schon immer besser als andere, ein weiteres Erbe ihrer ungewöhnlichen Mutter? Das alles ist noch sehr neu. Aber beim Gedanken an ihr leuchtendes Schriftzeichen spürt sie immer noch das Kribbeln in der Fingerspitze, mit der sie das Zeichen berührte. Schließlich siegt ihre Neugier. Sie möchte noch so vieles wissen.
«Hat jeder in dieser Welt seine eigene Magie?»
«Nun, manche haben mehr, manche weniger. Ich glaube, die meisten Leute sind froh, wenn sie nichts mit Magie zu tun haben. Sie nennen alle mit besonderen Kräften Zauberer und fürchten sich vor jeder Art Magie. Außer, wenn sie einen guten Heiler brauchen. Dann trauen sie sich sogar bis in unser Tal und in Rufweite von Antims Haus.»
«Ist Antim ein Heiler?»
«Ja, ein guter. Vielleicht der beste überhaupt. Aber er is noch vieles mehr. Als einer der letzen Schattenwandler hütet er viel altes Wissen.»
Als sie das Tor erreichen ist der Himmel schon fast hell, bald wird die Sonne aufgehen. Silàn bleibt bei den Eichen stehen. Sie hat noch eine wichtige Frage.
«Ich möchte gerne von Antim lernen. Glaubst du, dass ich ganz bei euch bleiben könnte?»
«Silmira und Antim hoffen, dass du bleibst. Aber er bat mich, dich nicht unter Druck zu setzen. Ich glaube, es ist wichtig, dass du deinen Weg selber wählst.»
Das Mädchen nickt.
«Das werde ich. Gib mir noch etwas Zeit. Ich werde heute mit Andres sprechen. Ich erzähle dir am Abend, was er über Tanàn zu berichten hat!»

Als Silàn kurz vor Sonnenaufgang das Gartentor erreicht, stellt sie überrascht fest, dass die Haustür offen steht. Andres bindet im Garten Schösslinge auf. Das Mädchen bleibt unsicher am Gartentor stehen. Aber der Onkel hat es längst erkannt.
«Guten Morgen, du bist früh auf. Hast du auch schlecht geschlafen?»
Silàn beschließt, alles auf eine Karte zu setzten.
«Ich habe noch gar nicht geschlafen, eigentlich die ganze Woche nicht. Können wir reden?»
Andres legt seine Werkzeuge auf den Gartentisch und bedeutet dem Mädchen, ihm zu folgen. Gemeinsam gehen sie zurück zum Waldrand und setzen sich auf die Bank. Der Onkel schaut sie fragend an. Silàn schluckt und sucht einen Anfang.
«Was kannst du mir über meine Mutter erzählen?»
Andres atmet langsam aus. Er scheint zu wissen, dass die Frage wichtig ist und die Antwort zählt.
«Tanàn war die faszinierendste Person, die ich jemals kannte. Sie war schön, sie war interessant und völlig anders als andere Mädchen. Sie konnte stundenlang einer Spinne zusehen, die ihr Netz baute. Sie lachte, wenn ein Regentropfen auf ihre Hand fiel. Einmal verbrachten wir eine ganze Nacht am Fluss und redeten. Und am Morgen, als mir die Augen zufielen, fragte sie mich, ob ich krank sei. So etwas wie Müdigkeit schien sie nicht zu kennen. Tanàn war dir sehr ähnlich.»
Silàn beobachtet, wie die ersten Sonnenstrahlen die taufeuchte Wiese berühren.
«Du hast sie sehr gut gekannt.»
«Ja, ich habe sie gut gekannt. Ich habe sie sehr geliebt und sie trotzdem verloren. Ich war ein Idiot.»
«Was ist passiert?»
Andres seufzt. Sein Blick folgt einer Amsel, die im Gras landet und mit einem Wurm im Schnabel wieder auffliegt.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt