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Blockade

Silàn verbringt die ganze Nacht am Tor, gegen eine Eiche gelehnt, fest in ihre Jacke gewickelt. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Obschon sie mehrmals und sowohl von Silmira wie auch Andres hörte, dass ihrer Mutter das gleiche passierte, rechnete sie nicht damit, dass auch für sie der Spiegel eines Tages verschlossen sein könnte. Sie hat keine Ahnung, was passiert ist und versucht noch mehrmals erfolglos, das Tor zu durchschreiten. Bei Sonnenaufgang macht sie sich auf den Heimweg, enttäuscht und niedergeschlagen. Im Haus schlafen noch alle. Sie schleicht in ihr Zimmer, legt sich aufs Bett und starrt die Decke an. Was ist passiert? Erst Stunden später reißt ein Klopfen an der Tür sie aus ihren Grübeleien. Angie fragt, ob sie frühstücken komme. Silàn erwidert brummend, sie habe keinen Hunger. Nur zögernd lässt sie sich überreden, zu kommen. Sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen aber die Augen hält sie gesenkt, aus Angst, gleich in Tränen auszubrechen.
«Hast du schlecht geschlafen?»
Peters Frage ist ungewohnt freundlich. Seltsam, wie gut er heute morgen aufgelegt ist. Sie nickt nur und murmelt etwas von schlechten Träumen. Die ganze Zeit spürt sie Andres' Blick auf sich ruhen. Aber sie konzentriert sich auf ihren Teller und bleibt schweigsam. Zum Glück streiten sich Angelika und Stefan wieder einmal und niemand stellt weitere Fragen. Nach dem Essen hilft sie das Geschirr in die Küche zu tragen. Andres berührt sie am Arm.
«Hast du einen Moment Zeit?»
Silàn nickt nur und folgt ihm in die Werkstatt. Andres schließt die Tür.
«Was ist passiert? Du siehst aus, als wärest du einem Geist begegnet.»
Sie blickt zu Boden und überlegt, wo sie beginnen soll. Andres ist der einzige, der vielleicht versteht, was passiert ist. Ihre Stimme ist belegt.
«Der Spiegel ist geschlossen. Ich komme nicht mehr durch das Tor. Ich versuchte die ganze Nacht vergeblich, A'shei zu erreichen. Ich weiß nicht, was ich tun soll.»
Andres sieht sie betreten an, während unkontrollierte Tränen über ihre Wangen rollen. Wütend wischt sie sich mit dem Ärmel die Augen. Sie ist kein kleines Mädchen, das wegen allem losheult. Aber diesmal ist die Verzweiflung so groß, dass sie nicht mehr an sich halten kann.
«Ich nehme an, du hast alles versucht? Ist es möglich, dass der Mond in der falschen Phase steht?»
Sie schüttelt verneinend den Kopf und versucht zu erklären, dass sie das Tor bisher immer, sogar tagsüber, durchschreiten konnte. Andres nickt nachdenklich.
«Sieht aus, als sei dir das gleiche passiert wie Tanàn. Ist es möglich, dass jemand anderes das Tor versperrt? Tanàn hatte eine Theorie, dass jemand versuchte, sie auszusperren.»
Erschrocken schaut Silàn ihn an. Daran hat sie noch nicht gedacht. Antim erwähnte Gegner, die sich daran stören könnten, dass noch eine Tochter von Silita lebt. Aber was kann sie dagegen tun? Ihre Gedanken fliegen, als sie sich an alles zu erinnern versucht, was Silmira, A'shei und die Xilyn ihr über das Tor erzählten.
Es klopft an der Tür und Stefan streckt den Kopf in die Werkstatt. Sein Tonfall ist spöttisch.
«Habt ihr beiden noch lange da drin zu tun oder können wir los? Ihr wisst doch, dass wir bei Tante Geraldine eingeladen sind!»
Andres berührt Silàn tröstend am Arm.
«Komm, lass uns gehen. Wir finden einen Weg. Was immer ich tun kann, um dir zu helfen, werde ich tun. Sprechen wir später weiter.»
Silàn nickt tapfer und trocknet die Tränen ab. Als sie Andres aus der Werkstatt folgt, bemüht sie sich, ein fröhliches Gesicht zu machen. Sie will lieber nicht erklären müssen, weshalb sie geweint hat. Und Stefan schon gar nicht.
Tante Geraldine ist eine Cousine von Judith und Peter. Sie lud die Familie ein, um Peter und seine Tochter willkommen zu heißen. Zudem ist Brigitte, ihre beste Freundin da. Peter ist ausnehmend gut gelaunt und scheint seine Sorge um Bettina wieder vergessen zu haben. Schon bald gibt es Essen. Silàn hat so kurz nach dem Frühstück keinen Hunger, und die Unterhaltung interessiert sie nicht im Mindesten. Geraldines Mann Hannes rät Peter, sich irgendwo um Arbeit zu bewerben. Er kennt jemanden, der dringend Unterstützung sucht. Peter verspricht, sich zu melden. Die Erwachsen diskutieren, wie schwer es im Moment ist, einen guten Job zu finden und schweifen dann ab. Gedankenverloren stochert Silàn in ihrem Essen, während sie beginnen, Geschichten aus ihrer Jugendzeit auszutauschen. Ab und zu blickt Andres sie nachdenklich an, aber er sagt nichts.
Die beiden Söhne von Geraldine und Hannes sind jünger als Stefan, bringen diesen aber dazu, sich nach dem Essen mit ihnen auf ihr Zimmer zurückzuziehen. Angie zieht Silàn am Ärmel in den Garten. Sie hat genug von den Gesprächen der Erwachsenen.
«Was ist eigentlich heute los mit dir? Du siehst traurig aus und hast noch fast kein Wort gesagt!»
Silàn lächelt müde. Die Schwester kennt sie nach dieser kurzen Zeit schon gut und lässt sich nichts vormachen. Trotzdem darf sie ihr nicht alles erzählen.
«Ich habe ein Problem, das ich lösen muss. Aber ich habe keine Ahnung, wie.»
Sie merkt selbst, wie resigniert das klingt. Angie schaut sie mit großen Augen an und fragt, ob sie helfen könne. Silàn seufzt leise. Es ist ihr ernst, als sie Angie verspricht, ihr zu sagen, wenn sie Hilfe braucht. Es tut gut zu wissen, dass sie in Andres und Angie zwei Verbündete hat, die sie wirklich unterstützen wollen. Die Mädchen verabschieden sich so bald wie möglich von den Gastgebern, um einen Spaziergang zu machen. Judith ist froh, dass sie sich so gut verstehen und Peter hat nur Augen für Brigitte. Andres blickt nachdenklich seinen beiden Töchtern nach, die Seite an Seite Richtung Wald davonziehen.
Silàn bleibt schweigsam, froh darüber, dass Angie ihre Stimmung respektiert. Wenn sie nicht daran herumrätselt, wie sie durch den Spiegel gelangen kann, überlegt sie, wieviel sie der Schwester erzählen darf, ohne Andres' Geheimnis zu verraten. Unbewusst lenkt sie ihre Schritte zurück zum Spiegel. Als sie den Wald betreten, fragt Angelika schüchtern nach ihrem Ziel. Silàn bemerkt erst jetzt, wo sie sind.
«Ich möchte etwas versuchen, es dauert nicht lange. Macht es dir etwas aus, hier einen Moment auf mich zu warten? Ich bin gleich zurück.»
Angie nickt und setzt sich auf einen Baumstumpf am Wegrand. Schweigend schaut sie Silàn nach. Diese nähert sich den beiden Eichen und bleibt wenige Schritte vor dem Tor stehen. Der Spiegel ist immer noch geschlossen. Deutlich kann sie sehen, wie der Weg gleich hinter dem Tor nach links abbiegt, anstatt geradeaus in ihre Welt weiterzuführen. Sie seufzt und ruft trotz allem leise A'sheis Namen. Wie erwartet erhält sie keine Antwort. Sie geht ein paar Schritte vorwärts und wieder zurück, versucht es noch einmal. Alles scheint normal zu sein, aber nicht so, wie sie es sich wünscht. Sie steht enttäuscht vor dem Tor beziehungsweise dort, wo es sein sollte. Angie nähert sich zögernd mit leisen Schritten. Silàn dreht sich nicht um. Die Schwester soll ihre feuchten Augen nicht sehen.
«Was ist los, was suchst du hier?»
Angie stellt ihre Frage zaghaft und bleibt neben Silàn stehen. Diese schluckt leer und entscheidet kurzentschlossen, ihrer Schwester die Wahrheit zu sagen, soweit sie es vermag.
«Hier ist ein Tor zu einer anderen Welt, zu meiner Welt. Aber seit gestern ist es verschossen, ich bin ausgesperrt und weiß nicht, was ich tun muss um es wieder zu öffnen.»
Angie starrt sie mit großen Augen an. Sie dachte immer, dass die große Cousine manchmal seltsam ist, aber das? Sie nimmt Silàns Hand.
«Erzähl mir mehr!»
Angie zieht sie mit sich zu einer der großen Eichen. Die beiden Mädchen setzen sich, den Rücken gegen den mächtigen Stamm gelehnt. Silàn sucht nach den richtigen Worten, während ihre Schwester erwartungsvoll schweigt. Sie scheint zu verstehen, dass diese Geschichte nicht einfach zu erzählen ist. Schließlich räuspert sich Silàn und beginnt dort, wo in ihren Augen alles anfing.
«Genau hier, zwischen diesen Bäumen, liegt das Tor zu der Welt, aus der meine Mutter kam. Du hast sicher gehört, wie sie hier im Wald starb, nachdem sie mich geboren hatte.»
Angie nickt. Wenn auch ihre Mutter und ihr Vater nie über dieses Thema sprechen, war das doch der wichtigste Gesprächsstoff der Schule in der Woche, als Peter mit seiner Tochter zurück ins Dorf zog. Aber Angie wusste bisher nicht, ob und wieviel Wahrheit in der Geschichte steckt. Als Silàn ihren skeptischen Blick sieht, lächelt sie traurig.
«Die Geschichte ist wahr, sowohl Andres wie Silmira bestätigen das. Sie müssen es wissen, sie waren dabei.»
«Vater? Was hat er damit zu tun?»
Silàn zögert. Am liebsten würde sie Angie alles erzählen. Aber sie hält sich zurück.
«Er war dabei, als sie meine Mutter und mich fanden. Das war ganz hier in der Nähe. Als ich zum ersten Mal hierherkam, wusste ich das noch nicht. Ich ging durch das Tor hindurch und begegnete A'shei. Er zeigte mir in den letzten Wochen seine Welt. Gestern Abend hatten wir eine Verabredung. Aber als ich herkam, war das Tor verschlossen. Und so ist es immer noch. A'shei und Antim behaupten, es sei nicht immer offen, aber bisher war es für mich nie versperrt. Ich habe keine Ahnung, wie ich es jemals wieder aufbekomme.»
«Du bist in der Nacht allein hierhergekommen?»
Angie ist schockiert. Sie würde sich das niemals getrauen. Silàn lächelt schwach.
«Ich habe keine Angst vor der Nacht. Ich bin die Tochter von Tanàn von Silita, die Nacht ist meine Freundin. Soviel habe ich inzwischen gelernt. Aber jemand sperrt mich aus meiner Welt aus, und ich weiß nicht wer und weshalb.»
Angie schüttelt den Kopf.
«Ich verstehe nur ungefähr die Hälfte von dem, was du sagst. Du musst mehr erzählen, Bettina.»
Silàn lehnt sich gegen den Baumstamm und überlegt, wo sie beginnen soll.
«Erstens heiße ich nicht Bettina. Mein Name ist Silàn. Das bedeutet Tochter des Mondes. Meine Mutter gab mir den Namen. Außer dieser Kette, die Andres mir schenkte, ist er das einzige, was ich von ihr besitze.»
Angie betrachtet neugierig die silberne Kette mit dem Mondbaumblatt.
«Silàn ist ein schöner Name, ich verstehe dass du ihn lieber magst als Bettina. Ich habe die Kette bei Papa gesehen. Wie kommt es, dass er etwas von deiner Mutter hatte? Und was ist das für ein Anhänger? Der war früher nicht dran.»
«Du musst ihn selber fragen, wie er zu der Kette kam. Den Anhänger brachte mir Silmira, meine Patin. Das ist ein Blütenblatt des Mondbaums aus Silita, der Heimat meiner Mutter. A'shei versprach, mich dorthin mitzunehmen...»
Wieder füllen Tränen die Augen des Mädchens. Angie umarmt die Schwester und hält sie fest, während sie sich an ihrer Schulter ausweint. Sie lässt sich alles durch den Kopf gehen, was Silàn erzählt hat. Als die Tränen langsam versiegen streicht sie ihr übers Haar und fragt freundlich: «Besser?»
Silàn nickt. Es tut ihr leid, dass sie die jüngere Angie in ihre Probleme hineinzieht.
«Verzeih mir, ich wollte nicht einfach so losheulen. Ich habe Angst, dass ich nie wieder dorthin zurück kann. Wenn Antim recht hat, blockiert wahrscheinlich jemand das Tor. Ich fühle mich so hilflos und weiß nicht, was ich dagegen tun kann.»
«Wer ist dieser Antim?»
«Der alte Schattenwandler, bei dem A'shei aufgewachsen ist. Er ist ein Magier und versprach, mich alles zu lehren, was ich über Magie wissen muss. Aber ich bin noch nicht dazu gekommen, etwas zu lernen, was mir jetzt helfen könnte.»
Angie schaut sie ungläubig an.
«Magie? So richtig wie in den Geschichten?»
Silàn zuckt mit den Schultern. Wie soll sie der Schwester erklären, was ihr selbst noch so fremd und kaum denkbar vorkommt? Sie steht auf und reicht Angie die Hand.
«Komm, lass uns nach Hause gehen, bevor wir Ärger bekommen. Ich werde am Abend noch einmal herkommen.»
«Darf ich mitkommen?»
«Lieber nicht, ich möchte es noch einmal allein versuchen. Ich habe Angst, dass das Tor geschlossen bleibt, wenn ich nicht allein komme. Erinnerst du dich, als wir das erste Mal zusammen hier waren? Damals war es auch so. Wenn ich allein kam, war es aber immer offen, bis gestern.»
Auf dem Rückweg wird nicht viel gesprochen. Silàn spürt, dass Angie durch ihre letzte Bemerkung verletzt ist. Der Himmel ist von dunklen Wolken überzogen und als sie das Gartentor erreichen, beginnt es zu regnen. Die Tropfen sind groß und schwer, sie passen zur Stimmung der beiden Mädchen. Silàn fragt Angie, ob sie Lust habe, in ihrem Zimmer zu lesen. Die Schwester strahlt übers ganze Gesicht vor Freude über die Einladung. Silàn lächelt, sie mag jetzt nicht allein sein. Kurz darauf steht Angie in der Tür, mit einer Packung Kekse, einem Krug Orangensaft und einer Gesamtausgabe von ‹Herr der Ringe›. Sie hat es bis in die Minen von Moria geschafft und will wissen, ob Antim Gandalf ähnelt. Silàn, die die Bücher kennt, kam bisher nie auf die Idee, einen solchen Vergleich anzustellen. Aber warum nicht... Die Mädchen machen es sich auf Silàns Bett bequem und diskutieren über Hobbits und Elfen, Drachen, Mondlichter und Xylin. Schließlich stellt Angie nachdenklich eine Frage, die ihr wichtig scheint.
«Silàn, glaubst du, dass Tolkiens Welt echt ist, so wie deine?»
«Ich weiß nicht, Angie. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll.»
Gedankenverloren malt sie mit dem Finger die beiden Zeichen ihres Namens auf die Bettdecke. Sie beginnen zu leuchten und verschmelzen miteinander, wie damals bei Antim. Mit offenem Mund starrt Angie zuerst das Zeichen und dann die Schwester an, die selber völlig überrascht ist.
«Was ist das?»
Vorsichtig berührt Silàn mit dem Finger das leuchtende Zeichen. Es löst sich von der Bettdecke und bleibt einen Moment an ihrem Finger kleben, bevor es langsam verblasst. Ihre Stimme ist nur ein heiseres Flüstern.
«Das ist Magie, Angie, meine Magie. Und vielleicht meine einzige Hoffnung.»

SilànWhere stories live. Discover now