3-12 Das Licht der Xylin

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Das Licht der Xylin

Mit energischen Schritten folgt Femolai einem schmalen Pfad zurück zum Nebenfluss des Girit, an dem ihr Schiff liegt. Es ist ein schlankes Flussboot mit flachem Boden, gebaut um auf dem Haon und seinen Zuflüssen schnell unterwegs zu sein. Sie besitzt eine ausgezeichnete Rudermannschaft und einen Steuermann, der auf diesen Gewässern aufgewachsen ist. So kann sie die Reise zurück nach Penira schneller als mit jedem Pferd hinter sich bringen. Zudem hat das Boot eine kleine Kabine, in der sie die Tagesstunden vor der Sonne geschützt verbringen kann. Nicht dass ihr das Sonnenlicht in ihrer menschlichen Gestalt wirklich Schaden zufügt, aber sie hasst die Helligkeit und ihre empfindlichen Augen und ihre Haut vertragen nur wenig direkte Sonneneinstrahlung.
Die Königin ist schlechter Laune. Ihre Begegnung mit Antims Schülerin verlief überhaupt nicht nach ihrer Vorstellung. Die Tochter Tanàns verfügt über mehr Geschick im Umgang mit Magie der Dunkelheit, als sie es für möglich hielt. Sie möchte zu gerne wissen, wo sie das lernte, denn bei ihrer letzten Begegnung war davon noch nichts zu bemerken. Hätte sie das Mädchen doch nur aus dem Weg geräumt, bevor es sich zu einer ernstzunehmenden Gefahr entwickelte! Wütend rafft sie ihren Mantel um die Schultern und bedeutet Talisha, schneller zu gehen. Wie immer, wenn Femolai schlecht gelaunt ist, bleibt die Wölfin vorsichtshalber einige Schritte zurück.
Endlich erreicht die Königin die Anlegestelle. Die Bootsmannschaft hat sich am Ufer zum Schlafen hingelegt. Mit einem Fußtritt weckt Femolai einen Ruderer. Sie braucht nicht einmal einen Befehl zu geben, der erschrockene Mann schüttelt eilig seine Kollegen wach und wenig später ist das Boot zum Ablegen bereit. Talisha bleckt die Zähne, als sie an Bord steigt. Die Wölfin hasst es, auf dem Wasser zu reisen. Sie streift lieber auf den eigenen Beinen durch die Wälder und Hügel.
Femolai steht als letzte am Ufer und blickt zurück in den Wald. Die Kaedin liegen als dunkle Schatten unter den Uferbäumen. Ein Stück hinter ihnen erkennt sie die Lichter der Xylin, die ihren dunkleren Verwandten gefolgt sind. Die Königin breitet die Arme aus und zieht eine große Menge Energie zusammen. Wenn sie schon der Mondlichtmagierin nicht beikommen konnte, so kann sie zumindest ihre Spione behindern. Einen Moment lang hält sie den Atem an und betrachtet fasziniert, wie die Xylin ahnungslos zwischen den Bäumen schweben. Dann lässt sie eine dicht geballte Energiewelle in ihrer Richtung los. Die Kaedin zucken schmerzvoll zusammen, als sie von diesem Ansturm getroffen werden und stieben verstört in alle Richtungen auseinander. Aber die hell leuchtenden Kugeln der Xylin zersplittern mit einem ohrenzerreißenden Klirren in tausend Teile. Jede einzelne Scherbe leuchtet schwach in den Farben des Regenbogens, während sie sanft wie ein Blatt im Wind zu Boden gleitet.
Mit einem bösartigen Lächeln wendet sich Femolai zufrieden ab und betritt das wartende Boot. Die Mannschaft zögert nicht, vom Ufer abzustoßen und das Schiff mit kräftigen Ruderschlägen flussabwärts in Bewegung zu setzen.

~ ~ ~

Silàn steht in ihrer Schattengestalt an der Stelle, an der sie soeben Femolais Angriffe abwehrte. Sie ist unsicher, ob ihre Gegnerin wirklich nicht zurückkommen und einen neuen Trick versuchen wird. Außerdem wartet irgendwo da draußen das Ijenkae. Sehr vorsichtig streckt sie noch einmal eine Gedankensonde in Richtung der großen Dunkelheit aus. Diesmal ist die Reaktion weniger heftig. Sie spürt zurückhaltendes Interesse, aber weder offene Feindschaft noch die Bereitschaft, zu vertrauen. Das Wesen ist fremdartig und ausgesprochen scheu. Auf jeden Fall hat es heute Nacht nicht mit der Königin der Dunkelheit gemeinsame Sache gemacht. Deshalb will ihm Silàn wenigstens eine Chance geben. Noch einmal tastet sie sich vorsichtig und langsam vor. Aber bevor ihr Gedanke das Wesen erreicht, wird ihre Aufmerksamkeit von einer anderen mächtigen Präsenz abgelenkt.
Durch die Magie der Nacht hallt wie eine starke Vibration der besorgte Ruf eines Drachenschattens. Wenn Silàn nicht schon früher engen Kontakt mit Ranoz gehabt hätte, wäre das Gefühl beängstigend. So löst es bei ihr nur Erleichterung aus. Voll freudiger Erwartung öffnet sie sich den Gedanken des Hrankae und setzt selber einen Ruf ab, um ihrem Drachenfreund die Richtung zu weisen.
‹Ranoz! Hier bin ich.›
Wenig später landet der große Drachenschatten an ihrer Seite. Sein Flügelschlag wirbelt tote Blätter vom Waldboden auf. Silàn lässt ihre Schattenform entgleiten und fällt ihrem Freund stürmisch um den schuppigen Hals.
«Ranoz, ich bin ja so froh, dass du da bist.»
Der Drachenschatten blickt sich mit goldenen Augen um. Seinen geschärften Sinnen entgeht nicht, dass dieser Ort erst vor kurzer Zeit Schauplatz eines magischen Duells war.
«Ich bin auch froh, dich zu sehen, Ahranan. Was ist passiert? Ich konnte die Erschütterung in der Magie der Nacht bis fast an den Haon hinunter spüren.»
Silàn lässt Ranoz nicht los. Ein Zittern läuft durch ihren Körper. Sie spürt erst jetzt, wie ausgelaugt sie sich nach der Begegnung mit der Königin fühlt.
«Femolai hat mich gestellt. Wir hatten einen magischen Zweikampf. Sie versuchte, mich mit Bannsprüchen und mit Energiewellen zu bezwingen, aber solange ich meine Schattengestalt beibehielt, konnte sie mir nichts anhaben. Auch die Kaedin hatten keine Chance, und Talisha hat mir wohl sogar geholfen.»
Sie zittert erneut als sie an das Klacken der Kiefer der Wölfin denkt, die wirkungslos durch ihre Schattenkehle hindurch zusammenschnappten. Dann fährt sie ruhiger fort.
«Ich hatte furchtbare Angst, ich wusste nicht, wie ich den Angriff erwidern sollte. Schließlich gab Femolai auf, als der Mond aufging. Aber ich glaube, ich habe wieder zuviel Magie auf einmal aufgenommen. Ich fühle mich völlig ausgebrannt. Und da draußen ist ein Ijenkae, das mich beobachtet.»
Ranoz betrachtet die junge Ahranan mit neuem Respekt. Sie stellte sich tatsächlich der selbsternannten Königin der Dunkelheit! Allerdings versteht er nur Teile ihres Bericht, und Silàn sieht tatsächlich aus, als hätte sie sich völlig verausgabt. Der Drachenschatten lässt sich auf dem Waldboden nieder und zieht sie unter seinen Flügel, um sie zu wärmen. Dann lässt er sich die ganze Geschichte noch einmal mit mehr Details erzählen.
Silàn drückt sich an den warmen Körper des Hrankae. Sie versucht, ihren Bericht so klar wie möglich zu halten. Ranoz unterbricht sie nicht. Sie ist gerade an der Stelle, als Femolais Kraft im Mondlicht schwand, als ihr magischer Sinn ein unangenehmes Vibrieren registriert, dicht gefolgt von einem schrillen Klirren. Sie hält erschrocken inne. Um Ranoz' Nüstern kräuselt sich dunkler Rauch. Gleichzeitig mit Silàn verschiebt er sich in seine Schattengestalt. Sofort spüren die beiden die Präsenz des Ijenkae, die jetzt viel deutlicher ist. Das Wesen strahlt Besorgnis aus und bewegt sich rasch in Richtung des Flusses. Ohne zu zögern folgt Ranoz der Dunkelheit. In seiner Schattengestalt windet er sich elegant zwischen Bäumen hindurch, die für seine Drachenform viel zu eng beieinander stünden. Während Silàn ihm folgt, spürt sie, wie sich die Besorgnis des Ijenkae schlagartig in Trauer verwandelt. Vorsichtig nähern Ranoz und Silàn sich der Stelle, wo das Wesen wie ein dichter schwarzer Nebelfetzen zwischen den Uferbäumen schwebt. Rings um die Dunkelheit liegen zahllose schwach leuchtende Scherben und Splitter. Silàn kann einen entsetzten Aufschrei nicht unterdrücken während Ranoz ein fauchendes Zischen und eine Wolke schwarzen Rauchs ausstösst. Langsam greift sie nach einer der glasartigen Scherben und streicht mit dem Finger über die gewölbte Oberfläche. Sie bemerkt ihren Gestaltwandel diesmal nicht einmal. Heiße Tränen rollen über ihr Gesicht. Das Fragment der Xyl ist warm und strahlt unendlichen Schmerz aus. Aber vom Wesen der Leuchtkugel ist nichts mehr zu spüren.
«Femolai hat sie zerstört. Weshalb tut sie so etwas? Die Xylin haben ihr überhaupt nichts zu Leide getan!»
Ranoz nimmt ebenfalls einige der Scherben auf. Seine Stimme ist müde und traurig.
«Für Femolai ist Grund genug, dass die Xylin zu dir und Haus Silita stehen. Wenn sie dich damit verletzen kann, lohnt es sich, gegen harmlose Wesen vorzugehen. Komm, hilf mir die Scherben einzusammeln. Wir müssen sehen, ob Heilung für diese Xylin möglich ist.»
Bei diesen Worten kräuselt sich der Nebel, der das Ijenkae umfängt. In die tiefe Trauer der Dunkelheit mischen sich neue Gefühle, etwas wie Hoffnung und eine Frage. Ranoz und Silàn wenden sich dem Wesen zu, das zögernd näher kommt. Es projiziert seine Gedanken und untermalt sie mit Bildern. Allerdings muss es seine Botschaft mehrmals wiederholen, bis Silàn sich an die fremdartige Ausdrucksweise gewöhnt.
«Ranoz, verstehe ich das richtig, es bittet uns, die Xylin zusammenzufügen und will ihnen dann ihr Bewusstsein wiedergeben?»
Ranoz blickt von seiner Ahranan zu dem Ijenkae und zurück. Es ist lange her, seit er einem dieser entfernten Verwandten der Hrankaedí begegnete. Was Silàn betrifft, soviel er weiß, konnte nicht einmal die große Magierin Ureshàn mit Ijenkaedí kommunizieren. Er sendet der Dunkelheit eine Reihe von eigenen Gedankenbildern, Freundschaft, Verständnis, Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Silàn verfolgt den Austausch gespannt und fügt eine Frage hinzu: Wie?
Die neue Bilderflut ist nicht einfach zu interpretieren, aber sowohl Ranoz wie auch Silàn gewöhnen sich an die Gedankenwelt des Ijenkae. Die junge Frau fasst zusammen.
«Es will, dass wir die Scherben auf einen Berg bringen?»
«Nicht irgendeinen Berg. Das ist Hrantosh, der Drachenberg, meine Heimat. Es will uns dort treffen. Ich glaube es hat das Bewusstsein der Xylin eingefangen und will es dorthin tragen.»
«Ja, so verstehe ich das auch. Aber warum Hrantosh?»
Ranoz wird nachdenklich. Xylin sind magische Wesen, wie die Kaedin. Sie wurden geschaffen, nicht wie die älteren Völker der Ijenkaedí und Hrankaedí, welche hier lebten, bevor es Nsilí und Menschen gab. Das Ijenkae fängt seine Gedanken auf und bestätigt sie beinahe freudig.
«Ich denke, es weiß, wie wir die Xylin retten können. Es gibt eine Legende, wie sie entstanden. Vielleicht steckt darin mehr Wahrheit, als ich bisher vermutete.»
Silàn betrachtet das Ijenkae, das nun eine bittend-fragende Ausstrahlung hat. Dann fällt sie eine Entscheidung.
«Wir sollten tun, was es sagt. Du hast mir beigebracht, dass es nicht mehr viele Xylin gibt. Wir müssen versuchen, ihnen zu helfen. Und das Ijenkae scheint nicht in Femolais Dienst zu stehen.»
Ranoz' Schnauben hat einen belustigten Unterton.
«Ijenkaedí sind freie Wesen der Nacht, Ahranan, wie wir Hrankaedí. Du kannst ihre Freundschaft und ihr Vertrauen gewinnen, aber sie niemals unterwerfen.»
Silàn nimmt ihre Schattengestalt an und nähert sich neugierig aber vorsichtig dem Ijenkae. Sie möchte diese Wesen gern besser verstehen. Diesmal weicht die Dunkelheit nicht aus. Als sich Schatten und Schatten berühren, beginnt die Erbin von Silita zu begreifen. Sie hat es mit einem sehr alten und sehr weisen Wesen zu tun, das den Kontakt mit Menschen meidet und Verachtung für ihre irrelevanten Machtkämpfe empfindet. Aber Femolai löste mit der Zerstörung der Xylin bei diesem Ijenkae etwas aus. Zum ersten Mal in der Geschichte bezieht eines dieser uralten Wesen in einem menschlichen Konflikt Position und ist zu einem Bund bereit, zur Rettung der Xylin. Bevor sich Silàn zurückzieht, um mit dem Aufsammeln der Scherben zu beginnen, erhascht sie einen kurzen Blick auf das leuchtende Bewusstsein der Lichtkugeln, das wie in einem Kokon im Innern des Ijenkae behütet wird.

SilànWhere stories live. Discover now