1-13 Das verschlossene Tor

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Das verschlossene Tor

Judith öffnet die Tür zur Werkstatt und fragt erstaunt, ob Bettina nicht habe schlafen können. Das Mädchen zuckt nur die Schultern, was soll sie der Tante - nein, eigentlich ist Judith ihre Stiefmutter - für eine Erklärung geben, die keine Lüge ist? Judith scheint ihr Unbehagen zu spüren.
«Ist es wegen Peter und Brigitte? Ich bin sicher, dass es für ihn gut ist, eine neue Beziehung aufzubauen. Du bist ein großes Mädchen, du musst damit umgehen lernen. Ist dir nicht aufgefallen, dass er weniger trinkt, seit er sie regelmäßig sieht?»
Silàn lächelt traurig. Natürlich ist ihr das aufgefallen. Er ließ sich sogar einen neuen Haarschnitt machen, was seit Monaten nötig war.
«Ich weiß dass es gut für ihn ist. Gebt mir bitte etwas Zeit. Ich muss mich an alles hier gewöhnen.»
Judith und Andres schauen sich an. Wenn es weiter nichts ist...
«Selbstverständlich, Liebes. Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Angelika sagt, du würdest heute mit ihr reiten gehen? Das ist eine tolle Idee! Komm, hilf mir Frühstück vorzubereiten, damit wir zeitig los können zum Einkaufen und ihr rechtzeitig zur Reitstunde kommt.»
Mit einem dankbaren Blick zu Andres berührt Silàn das Mondbaumblatt, welches sicher an der Silberkette um ihren Hals hängt, und folgt Judith in die Küche.

Angie ist begeistert, dass Bettina heute mit zum Reitstall kommt. Silàn wird etwas wehmütig beim Gedanken, dass ihr wohl nur wenige gemeinsame Tage oder sogar Stunden mit der jüngeren Schwester bleiben. Sie will die definitive Entscheidung aber erst treffen, wenn sie mit A'shei gesprochen hat.
Nach dem Mittagessen gehen die beiden Mädchen zu Fuß zum Hof, auf dem ein Bauer einige Reitpferde hält und Reitstunden gibt. Das Angebot ist vor allem während den Sommerferien gefragt, wenn Touristen zum Wandern hierher kommen. Während des restlichen Jahres gibt es deshalb genügend Möglichkeiten für interessierte Kinder im Dorf, die Pferde auszureiten. Angie nimmt seit einem Jahr Unterricht und ist begeistert. Sie stellt Silàn der Reihe nach alle Pferde vor und liefert von jedem eine Charakterskizze mit.
Ein großer Junge mit blondem Wuschelkopf und blauen Augen kommt aus dem hinteren Teil des Stalls. Silàn kennt ihn aus der Schule, er ist eine Klasse über ihr. Angie begrüßt ihn begeistert.
«Thomas! Kommst du heute mit uns?»
Er ist offensichtlich ihr großer Held. Thomas lacht freundlich.
«Ja, ich komme mit euch. Schließlich ist Samstag, die Schularbeiten können warten.»
Er zwinkert Silàn zu und sie lächelt zurück. Sie haben in der Schule noch nie zusammen gesprochen, aber Thomas wirkt nett. Angie entwickelt einen guten Geschmack. Der Junge legt drei Tieren die Sättel auf. Die Mädchen helfen, so gut es geht. Silàn hört, wie der Junge Angie leise eine Frage stellt.
«Kann deine Schwester gut reiten?»
Gespannt wartet sie auf die Antwort und muss ein Lachen über Angies Bemerkung unterdrücken.
«Nicht besonders. Aber du wirst es ihr schnell beibringen.»
Thomas lacht und Angie verzichtet darauf, ihm zu sagen dass sie nur Cousinen sind. Ob sie etwas ahnt? Nun, vermutlich wünscht sie sich, eine große Schwester zu haben, und unterlässt deshalb eine Richtigstellung. Silàn zeigt nicht, dass sie mithörte. Als Thomas aber die Pferde ins Freie führt und ihr die Zügel in die Hand drückt, sagt sie ihm doch, dass dies ihre erste Reitstunde ist. Der Junge meint, er hätte es vermutet und ihr ein ruhiges Tier ausgesucht. Seine Zuversicht steckt Silàn an. Bewundernd betrachtet sie die tiefschwarze Stute und reicht ihr ein Stück Zucker, wie Angie es ihr vormacht. Der Ausritt macht Spaß. Thomas zeigt ihr, wie sie sitzen und die Zügel halten muss. Angie ist gut aufgelegt und als Thomas ein Stück vorausreitet nutzt sie die Gelegenheit.
«Ist er nicht süß? Du könntest mit ihm zusammen sein!»
Schon wieder muss Silàn das Lachen unterdrücken.
«Er ist bestimmt süß. Aber ich glaube, ich habe schon jemanden gefunden.»
«Deinen A'shei? Bist du sicher dass er dir genau so gut gefällt wie Thomas?»
«Ziemlich sicher. Wenn du noch ein paar Jahre wartest, kannst du Thomas bekommen. Er mag dich!»
«Er ist vier Jahre älter als ich, das klappt nie!»
Silàn staunt über die erfrischende Naivität der Schwester.
«Warte nur, das wird sich geben.»
Angie schaut sie zweifelnd an. Aber schon bald scheint sie das Gespräch zu vergessen. Später, auf dem Rückweg, wendet sich Thomas leise an sie, so dass Silàn es nicht hören soll.
«Deine Schwester reitet gut für eine Anfängerin. Sie ist ein Naturtalent. Hat sie eigentlich schon einen Freund?»
Angie grinst übers ganze Gesicht, als sie zu Silàn zurückblickt, die hinter den beiden reitet.
«Ja, sie hat einen netten Freund. Aber vielleicht, wenn du dir Mühe gibst...»
Thomas lächelt Silàn über die Schulter zu.
«Mal sehen.»

Die beiden Mädchen helfen nach dem Ritt die Pferde abzureiben und zu füttern. Silàn verabschiedet sich etwas wehmütig von der schwarzen Stute. Vielleicht wird sie das Pferd nie wiedersehen. Wider Erwarten macht ihr, dem Stadtkind, das Reiten Spaß. Aber vielleicht ist auch das etwas, was sie von der unbekannten Mutter erbte. Thomas bietet ihr an, jederzeit mit Angie herzukommen. Ihm hat der Ausflug offensichtlich auch gefallen. Auf dem Heimweg hört sie gut gelaunt dem Geplauder der Schwester zu. Sie mag Angie und würde ihr gern die Wahrheit sagen. Aber sie weiß, dass ihre Zeit wohl bald abläuft. Heute noch will sie mit A'shei sprechen.
Nach dem Abendessen erklärt sie deshalb, sie sei müde und geht auf ihr Zimmer. Solange noch Betrieb im Haus ist, traut sie sich aber nicht, wegzuschleichen. Das Warten wird ihr lang. Sie stöbert in einem ihrer Lieblingsbücher, aber es vermag sie nicht zu fesseln. Endlich wird es ruhig im Haus, die letzte Zimmertür schließt sich. Sie nimmt den gewohnten Weg über das Dach des Anbaus und bewegt sich geschickt und ohne überflüssige Geräusche. Die Nacht ist kühl. Silàn zieht die Jacke enger um die Schultern und läuft los. Wolkenfetzen hasten über den Himmel, nur ab und zu ist dazwischen ein Zipfel des Mondes zu sehen. Er ist zur Hälfte voll, noch eine Woche bis zum nächsten Vollmond. Es scheint kaum möglich, dass sie erst vor drei Wochen die Nsilí tanzen sah. Das Mädchen atmet auf, als es den Schutz des Waldes erreicht. Aber unter den Bäumen ist es heute düsterer als sonst, die Wipfel rascheln bedrohlich im Wind. Endlich erreicht Silàn außer Atem das Tor. Aber was ist das? Etwas ist verändert. Zwischen den beiden großen Eichen hängt Nebel. Langsam nähert sie sich dem Spiegel und ruft leise A'sheis Namen. Sie erhält keine Antwort und versucht es noch einmal, etwas lauter. Vielleicht hört er sie wegen dem Wind nicht?
«A'shei, bist du da? A'shei?»
Etwas stimmt nicht. Silàn hat das beklemmende Gefühl, sie werde beobachtet. Aber niemand lässt sich blicken. Langsam nähert sie sich dem Tor. Der Nebel löst sich auf, vielleicht bildete sie ihn sich auch bloß ein. Als sie zwischen den beiden Eichen hindurchgeht, ist es wie damals, als sie mit Angie hier war. Der Wald hinter dem Tor ist anders, der Weg biegt links ab und führt in einem Bogen zurück zum Waldrand. Es gibt nur eine Erklärung. Das Tor ist verschlossen.
Verzweifelt versucht sie es ein zweites, ein drittes Mal. Das Resultat bleibt gleich. Der Weg führt in einem Bogen zum Waldrand. Es ist, als wäre die Welt hinter dem Spiegel nie da gewesen. Alles Rufen nach A'shei, alles Hoffen und Bitten hilft nichts. Der Spiegel bleibt verschlossen.

SilànWo Geschichten leben. Entdecke jetzt