2-7 Aufbruch

2.3K 128 13
                                    

Aufbruch

Die Nacht und der nächste Tag vergehen schnell. A'shei ist mit Silàns Jacke beschäftigt, bis ihm fast die Augen zufallen. Trotzdem steht er bereits im Morgengrauen wieder auf, um weiterzuarbeiten. Silàn flickt inzwischen eine Hose des Jungen und beginnt mit dem Zuschneiden von zusätzlichen Hemden. Antim sieht nach einigen Stunden Schlaf wieder etwas besser aus als in der Nacht. Trotzdem fällt Silàn auf, wie hager der alte Mann in letzter Zeit geworden ist. Oder liegt es an der bevorstehenden Trennung, dass sie ihn mit anderen Augen betrachtet?
Sie legt sich am Vormittag ein paar Stunden hin und ist anschließend wieder besser in der Lage, mit den Vorbereitungen weiterzumachen. Antim hilft ihr, aus Leder für beide je eine Tasche mit Tragriemen zu machen. Sie haben vor, nicht viel mitzunehmen, und es soll bequem zu tragen sein. Außerdem gilt es Pfeile vorzubereiten, Messer zu schleifen, Kleider auszubessern und Vorräte auszuwählen. Über all diesen Aktivitäten bricht der Abend herein. Sie hat sich vorgenommen, noch bei ihrer Schwester vorbeizuschauen. Deshalb bricht sie nach dem späten Abendessen auf, während A'shei und Antim sich früh hinlegen.

Der Mond ist fast voll und beleuchtet den Weg, auf dem sie längst jede Wurzel und jeden Stein kennt. Sie zieht sich vorsichtshalber den Schal über ihr silbernes Haar. Die Bewegung ist schon zur Gewohnheit geworden. Antim warnte sie oft davor, dieses Haar offen zu zeigen. Silàn genießt es, nachts allein im Wald zu sein. Bald nähert sich eine Gruppe Xylin, um sie ein Stück zu begleiten. Die durchscheinenden Kugeln geben farbiges Licht ab und lassen ihr leises Glockenläuten erklingen. Silàn streckt lachend eine Hand aus, während sie leichtfüßig weitergeht. Eine der Kugeln lässt sich sanft darauf nieder, um für die anderen die Kommunikation zu übernehmen. Wie immer dauert es eine Weile, bis sich die Regenbogenfarben vor ihrem inneren Auge ordnen und sie die Stimme der Xyl versteht. Diese kommt wie üblich direkt zur Sache.
«Silàn. Tochter der Nacht ist bereit für lange Reise. Xylin begrüßen Entscheidung. Silita-Suan wartet auf Königin.»
«Schön, dass ihr euch freut. Woher wisst ihr von dieser Geschichte?»
«Xylin spüren Silàns Entschlossenheit. Zeit der Veränderung ist gekommen.»
«Ja, das spüre ich auch. Allerdings fürchte ich, dass ich keine Ahnung habe, auf was ich mich da einlasse. Wenn ihr wisst, was ich in Silita tun muss, so sagt es mir bitte.»
«Xylin kennen Zukunft nicht. Silàn zieht nach Silita. Schritt folgt auf Schritt.»
Darüber muss Silàn lachen. Die Xylin zeigen ihr, wie sie das Ganze angehen muss, Schritt für Schritt. Und als erstes steht der Besuch bei Angie an.
«Ich danke euch. Vermutlich mache ich mir zuviel Sorgen. Ich hoffe, dass wir uns unterwegs ab und zu sehen.»
«Xylin ziehen andere Wege als Silàn. Xylin sehen Tochter der Nacht wieder wenn Zeit richtig ist. Mondbaum auf Silita-Suan wird wieder blühen.»
Mit diesem aufmunternden Satz lassen die Xylin ein letztes Mal ihre Glockentöne erklingen und verschwinden in einem Wirbel zwischen den Bäumen. Silàn blickt ihnen mit strahlenden Augen nach. Obwohl sie keine neuen Informationen erhielt, ist ihr eindeutig leichter ums Herz. Mit raschen Schritten setzt sie ihren Weg fort. Es ist nicht mehr weit bis zum Spiegel.
Vor dem Tor bleibt sie stehen. Die Blätter der beiden Eichen rascheln leise. Hinter dem Spiegel liegt ein Stück des Weges im Mondlicht. Langsam nähert sie sich dem Durchgang. Seit jener denkwürdigen Nacht, als sie den Spiegel mit roher Magie zerbrach, verspürt sie immer Respekt an dieser Stelle. Halb befürchtet sie sogar, dass das Tor wieder verschlossen sein könnte. Aber alles ist ruhig und friedlich. Mit einem vorsichtigen Schritt betritt sie die Welt, in der sie geboren wurde. Sie wirft einen kurzen Blick zurück, das Tor bleibt offen wie es sein soll. Zu Beginn traf sie sich mit Angie immer direkt hier unter den Eichen, traute sich nicht, den Durchgang aus den Augen zu lassen. Als ihr magisches Geschick zunahm, verlor sie nach und nach die Angst, noch einmal ausgesperrt zu werden. Trotzdem achtet sie immer noch darauf, kurz vor oder nach Vollmond herzukommen, wenn ihre Magie am stärksten ist.
Das letzte Stück des Weges legt sie laufend zurück, den Schal um ihren Kopf festhaltend. Es ist schon spät und sie hofft, dass Angie nicht tief schläft. Eigentlich ist sie mit ihr erst für übermorgen verabredet, in der Nacht nach Vollmond. Sie fragt sich, welcher Wochentag wohl gerade ist. Solche Dinge sind für sie inzwischen belanglos. Dafür weiß sie immer genau, in welcher Phase der Mond steht und wie lange es bis zu seinem Auf- oder Untergang dauert.
Das Haus von Judith und Andres ist dunkel, alle scheinen zu schlafen. Vorsichtig und leise öffnet sie das Gartentor. Es ist lange her, seit sie zum letzten Mal hier war. Andres müsste die Torangeln wieder einmal ölen. Sie wählt ihren alten Schleichweg über den Apfelbaum auf das Dach des Anbaus. Angie erzählte vor einiger Zeit, dass sie nun in Silàns altes Zimmer umgezogen sei. Es ist zwar nicht größer, aber es liegt nicht direkt neben dem Schlafzimmer der Eltern, so dass sie ungestört Musik hören kann. Außerdem weiß sie inzwischen, dass die Hoffnung vergeblich ist, die Schwester würde eines Tages zurückkommen.
Leise klopft Silàn ans Fenster. Im Zimmer ist es dunkel, aber wenigstens sind die Läden nicht geschlossen und die Vorhänge offen. Angie mag es, wenn der Mond ins Zimmer scheint.
Silàn muss ein zweites und ein drittes Mal klopfen, bevor sich drinnen etwas regt. An der Scheibe zeigt sich ein blasses Gesicht. Sie schiebt den Schal etwas zurück, damit die Schwester ihr silbernes Haar sehen kann. Sofort öffnet diese darauf das Fenster.
«Silàn! Dich habe heute ich heute nicht erwartet. Wolltet du uns nicht übermorgen treffen?»
Angies langes goldblondes Haar reflektiert das Mondlicht. Es ist zerzaust, sie schlief schon tief. Aber in ihrem Gesicht steht deutlich die Freude über das Wiedersehen mit der älteren Schwester.
«Ich musste das Programm anpassen. Wie geht es dir?»
«Danke, gut. Mutter erlaubt mir endlich, bei Thomas im Stall zu arbeiten. Mit den Touristen ausreiten, Pferde pflegen und so. Ich fange nächsten Samstag an!»
Silàn erinnert sich, dass sie früher glaubte, Angies Interesse an Pferden sei nur eine vorübergehende Phase. Offensichtlich täuschte sie sich. Sie ist froh darüber, denn sie mag Thomas und seine Pferde.
«Toll für dich. Und Thomas, wie geht es ihm?»
«Gut, glaube ich. Er hat jetzt eine Freundin.»
Angie verzieht das Gesicht. Silàn weiß, dass sie mehr als nur eine Schwäche für den blonden Jungen hat.
«Du magst sie nicht?»
«Nein. Sie ist eine Hexe.»
Silàn zieht die Augenbrauen hoch. Angie grinst, als sie merkt, wie diese Bemerkung auf die Schwester wirken muss.
«Naja, sicher keine richtige Hexe. Nicht mit Magie und so. Aber ein Ekel ist sie auf jeden Fall. Sie glaubt, sie sei etwas Besseres und behandelt Thomas wie einen Dienstboten. Ich mag sie nicht. Hoffentlich merkt er bald, was für eine arrogante Pute er sich da geangelt hat.»
Silàn lacht. So wie sie Thomas einschätzt, lässt der sich nicht lange an der Nase herumführen. Er war damals der Einzige, der sie unfehlbar als Schwestern erkannte und sich nie davon abbringen ließ.
«Du solltest mehr Vertrauen zu deinem Thomas haben. Ich bin sicher dass er auf dich wartet!»
Angie schnaubt verächtlich.
«Er ist bereits über achtzehn, fast vier Jahre älter als ich. Für ihn bin ich nur ein kleines Mädchen. Außerdem geht er im Herbst weg, um seine Ausbildung zu beenden. Um den Hof zu übernehmen, muss er einen kaufmännischen Abschluss machen, meint sein Vater. Deshalb kann ich da arbeiten, weil jemand sich um die Pferde kümmern muss, während Thomas in der Stadt ist.»
Silàn nickt. Sie ist sicher, dass dieses Arrangement gut ist für Angie. Und Thomas wird oft genug daheim sein, um sie nicht zu vergessen.
«Lass Thomas von mir grüßen. Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. Ich werde morgen zu einer längeren Reise aufbrechen und wollte nicht einfach verschwinden, ohne dass du davon weißt.»
«Eine Reise? Wohin gehst du? Ich dachte du machst bei Antim deine Ausbildung! Aber komm herein!»
Silàn schüttelt lächelnd den Kopf. Angie ist immer noch genau so ungestüm und voller Fragen wie vor zwei Jahren.
«Danke, ich kann mich auch hier draußen hinsetzen. Wohin meine Reise am Ende führt, weiß ich nicht. Antim meint, ich hätte alles gelernt, was er mir beibringen könne. Deshalb ist es an der Zeit, eine neue Herausforderung anzunehmen.»
Angie wird nachdenklich, als ihr klar wird, dass sie die Schwester wohl eine Weile nicht wiedersehen wird.
«Lass mich Vater wecken, ich bin sicher, dass er sich auch von dir verabschieden möchte.»
«Wie willst du das anstellen, ohne dass Judith etwas merkt?»
Sie mag die Tante, oder eigentlich Stiefmutter, immer noch nicht besonders. In Angies Augen leuchtet der Schalk.
«Ich wecke ihn und behaupte, ich hätte schlecht geschlafen. Früher erzählte er mir dann immer eine Geschichte.»
«Du bist jetzt bald fünfzehn und ich bezweifle, dass die Masche mit der kleinen hilflosen Angie noch zieht!»
Aber die Schwester ist schon unterwegs. In der Tür dreht sich noch einmal um.
«Wir treffen uns in der Werkstatt. Ich öffne die Tür zum Garten.»
Silàn seufzt und klettert übers Dach zurück in den Garten. Dann geht sie leise um das Haus herum, um bei der Werkstatttür zu warten. Sie braucht nicht lange Geduld zu haben. Andres öffnet die Tür selber. Er strahlt übers ganze Gesicht, als er seine ältere Tochter in die Arme schließt.
«Silàn, es ist gut, dich zu sehen. Wie geht es dir?»
Noch einmal berichtet sie von ihrem Entschluss, eine Reise mit ungewissem Ziel anzutreten. Der Vater hört aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen. Erst als sie endet, fragt er nach.
«Du denkst also, die Prophezeiung, die Tanàn hierher brachte, bezieht sich auch auf dich?»
Silàn staunt wie immer über Andres Begabung, den wesentlichen Punkt aufzugreifen.
«Das Schicksal meiner Mutter und meines sind verwoben. Ich verstehe all diese Sprüche und Träume nicht. Aber etwas in mir weiß, dass ich aufbrechen muss.»
Andres erinnert sich an Tanàns Ahnungen, hinter denen sich jeweils mehr verbarg, als im ersten Augenblick erkennbar war.
«Ich wünsche dir Glück und Erfolg, Silàn. Wohin auch immer dein Weg dich führt, ich hoffe, du kommst zu uns zurück.»
Silàn nickt. In ihren Silberaugen stehen Tränen, als sie zuerst Andres uns dann Angie zum Abschied umarmt. Aber bevor sie gehen kann, fällt Andres noch etwas ein.
«Warte, ich habe etwas für dich. Eigentlich war das ein Geburtstagsgeschenk, aber ich glaube ich gebe es dir lieber jetzt.»
Er sucht etwas auf seiner Werkbank. Andres, der einmal Musiker werden wollte, ist ein begabter Schreiner und Drechsler. Seine Freizeit verbringt er in dieser Werkstatt. Als er sich umdreht, hält er zwei gedrehte hölzerne Armringe in der Hand. Sie bestehen aus dunklem, fein gemasertem Holz und sind einfach, aber kunstvoll geformt.
«Hier, einer für Angie, einer für Silàn. Ich hoffe, sie passen.»
Silàn lächelt, als sie wortlos beide Armringe entgegennimmt und auf ihre offene Hand legt. Sie öffnet die Tür und tritt hinaus in den Garten, ins Mondlicht. Mit der freien Hand streicht sie einmal über die Ringe, die im silbernen Licht zu glühen scheinen. Dann reicht sie einen Ring Angie, den anderen streift sie selber über. Sie passen beide wie angegossen. Silàn wendet sich Andres zu.
«Dein Handwerk und mein Handwerk. Vielen Dank!»
«Was hast du mit den Ringen gemacht?»
«Ich habe ihnen Stärke gegeben und die Erinnerung an diesen Moment darin festgehalten. Keine große Magie, aber in dieser Welt ist meine Kraft nicht groß. Tausendmal auf Wiedersehen!»
Angie betrachtet ihren Ring und dann die Schwester.
«Auf Wiedersehen, Silàn, alles Gute!»
Die junge Frau lächelt dem Vater und der Schwester ein letztes Mal zu, bevor sie den verrutschten Schal über ihr Silberhaar zieht und sich leichtfüßig auf den Heimweg macht.

SilànWhere stories live. Discover now