3-10 Begegnung am Girit

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Begegnung am Girit

A'shei atmet tief durch und rückt den Riemen seiner Tasche zurecht, bevor er mit entschlossenen Schritten auf das Stadttor von Penira zugeht. Er legte den Weg hierher in Rekordzeit zurück. Da seine Magie unauffälliger ist als diejenige Silàns, konnte er sich alle Vorteile der Tannarí-Jäger zu Nutze machen. Wie ein Schatten war er unterwegs, unbemerkt und leise. Er verbrachte kaum eine Nacht in menschlicher Gesellschaft, zog es vor, die wenigen Stunden Schlaf in einem Versteck zu genießen und vom Land zu leben.
Um möglichst lange gemeinsam reisen zu können, wählten Silàn und er den Weg von Himenar nach Honar, um anschließend von dort aus auf einer wenig benutzten Route durch die Hügel von Gerin nach Westen bis in den Marktort Ja'ar zu ziehen. Dort trennten sie sich vor einem viertel Mond. Während A'shei nach Südwesten zur Fähre von Zalkenar weiterreiste, brach Silàn Richtung Norden auf, um den Girit zu überqueren und den Treffpunkt auf dem Hintosh in Inoira zu erreichen.
Seit ihrer Trennung macht sich A'shei pausenlos Sorgen um seine Freundin. Selbst dass Silàn versprach, spätestens bei der Überquerung des Girit, des Grenzflusses zwischen Gerin und Inoira, den Drachenschatten Ranoz zu rufen, beruhigt ihn nur bedingt. Was ist, wenn der Älteste der Hrankaedí den Ruf nicht hört oder anders beschäftigt ist? A'shei zweifelt nicht daran, dass Femolai mit allen Tricks gegen Silàn vorgehen wird.
Über diesen düsteren Gedanken erreicht er die Tore Peniras. So früh am Morgen sind zahllose Bauern mit verschiedensten Waren unterwegs zum Markt. A'shei schließt sich unauffällig einer Gruppe mit einem Wagen voller Hühner und Körben mit Gemüse an. Er trägt das Hemd, das Fjenis ihm damals schenkte, das lange schwarze Haar unter seinen breitkrempigen Hut hochgesteckt. Er kann ein Lächeln nicht unterdrücken, als ihm einfällt, wie Silàn darauf bestand, dass er ebenfalls einen Hut brauche. Ohne hätte sie ihn wohl nicht ziehen lassen. Er muss aber zugeben, dass er sowohl zur Tarnung wie zum Schutz seiner nun ebenfalls lichtempfindlichen Augen praktisch ist.
Die Mauern Peniras wirken noch genauso bedrohlich, wie er sie in Erinnerung hat. Einige Wachen lehnen sich gelangweilt gegen die Wand des Tordurchgangs und mustern die Menge. Sie tragen die Uniformen Pentims, von den Schwarzmänteln Femolais ist zum Glück nichts zu sehen. A'shei will gerade erleichtert aufatmen, als ihn einer der Wächter grob am Arm fasst.
«He, du, was willst du in der Stadt?»
«Ich habe eine Nachricht für den Stallmeister des Hauses Kinet von seinem Hofvorsteher.»
Gelangweilt lässt der Wachmann seinen Arm los und winkt ihn weiter, um einem dunkelhäutigen Mädchen hinterherzuschauen, das einige Ziegen durch das Tor treibt. Zum ersten Mal macht sich A'sheis Ortskenntnis bezahlt. Er hätte aus Fjenis' Informationen problemlos eine kompliziertere Geschichte spinnen können. Aber je weniger die Wachen wissen, desto besser. Kinet ist eines der großen Handelshäuser, bestimmt sind da ständig Botschaften unterwegs. Schlimmstenfalls wüsste er auch den Namen des Stallmeisters, der Fjenis' Vorgesetzter ist und A'shei für einen Verwandten seines Stallburschen hält. Ohne einen Blick zurück macht sich A'shei auf den direkten Weg zu Fjenis' Stall. Falls ihm jemand folgen sollte, wird er seine Geschichte bestätigt finden.

~ ~ ~

Silàn überblickt von einer Anhöhe den Fluss Girit, der sich wie ein blauglänzendes Band durch saftige grüne Wiesen zieht. Von hier aus erkennt sie im Abendlicht die große Brücke Keritaja, von der sie bereits seit einigen Tagen immer wieder hört. Sie besitzt aus Steinen gemauerte Pfeiler mit drei schön geschwungenen Bögen und ist breit genug, dass sich auf ihr zwei Wagen kreuzen können.
Silàn atmet erleichtert auf. Sie kam seit der Trennung von A'shei langsamer vorwärts, als sie gehofft hatte. Von Ja'ar aus folgte sie dem Girit aufwärts Richtung Osten. Das war natürlich ein Umweg, aber sie wollte so lange wie möglich mit A'shei zusammen unterwegs sein. Nach der Trennung kostete sie das ausgesprochen schlechte Wetter viel Zeit. Der Regen verwandelte Teile der Straße in Schlamm und machte sie unpassierbar. Das zwang sie, wie viele andere Reisende, zu mühsamen Umwegen.
Nun ist das Wetter endlich besser, und sie steht an der Stelle, wo die Straßen von Ja'ar und Honar nach Ushar bei der Steinbrücke zusammentreffen. Die Brücke Keritaja ist nach Pentims Großvater Kerim benannt, der sie erbauen ließ. Sie wird von allen Reisenden benutzt, die von Gerin nach Inoira ziehen. Tagsüber herrscht auf der Straße deshalb viel Betrieb. Zunächst reiste Silàn aus diesem Grund vor allem nachts. Aber bereits in der zweiten Nacht nach der Trennung von A'shei spürte sie deutlich die Präsenz von Dunkelheiten. Zu Beginn war das wohl nur ein einzelnes Kae, sie fühlte sich nicht wirklich bedroht. Aber im Verlauf weniger Nächte sammelte sich eine Gruppe von Kaedin, die ihren Weg verfolgten, auch wenn sie sich niemals blicken ließen. Schließlich konnte sie, wie damals in den Sümpfen des Haon, die Anwesenheit eines Wesens spüren, das deutlich mächtiger und gefährlicher war als Kaedin. Sie begann daraufhin, tagsüber zu reisen. Ihre Hoffnung, so ihre Verfolger abzuschütteln, erwies sich rasch als nichtig. Jeden Abend spürt sie jetzt bereits kurz nach Sonnenuntergang, wie ihre Verfolger auftauchen, zuerst die Kaedin, dann die größere Dunkelheit. Selbst wenn sie bisher nie wieder diese namenlose Angst verspürte, die das erste Kae in sie hineinprojizierte, ist ihr die ungewollte Begleitung unangenehm. Sie ist deshalb entschlossen, so bald wie möglich Ranoz zu rufen. Eigentlich wartete sie nur, weil heute Vollmond ist. In dieser Nacht besitzen Dunkelheiten tendenziell weniger Kraft, während sie selber vom Mondlicht profitiert. Sie rief Ranoz bisher immer mit Mondlichtmagie, das sollte kein Problem darstellen. Und so macht sie hoffentlich Femolai nicht unnötig auf ihre Fähigkeiten im Umgang mit Magie der Nacht aufmerksam.

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