2-2 Morgenstunde

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Morgenstunde

Silàn lehnt sich an den Türpfosten von Antims Haus und beobachtet, wie über dem Tal die Sonne aufgeht. Ihre ersten Strahlen tauchen die sommerlichen Wiesen in goldenes Licht und vertreiben die letzten Schwaden der Morgennebel über dem Bach. Sie liebt diese einsamen, frühen Morgenstunden, in denen Meister Antim und A'shei noch schlafen und sie in Ruhe ihren Gedanken nachhängen kann. Bald wird es Zeit, das Frühstück vorzubereiten. Normalerweise würde sie dann, nach der Mahlzeit, einige Stunden schlafen. Es hat sich eingespielt, dass sie sich tagsüber etwas Ruhe gönnt. Nachts ist sie viel zu wach und aktiv, um schlafen zu können. Deshalb nutzt sie die dunklen Stunden zum Üben ihrer Magie, zum Lesen von Antims zahlreichen alten Büchern oder verbringt sie draußen im Wald mit ihren Freunden den Nsilí und Xylin oder beim Bogenschießen. Da sie mit sehr wenig Schlaf auskommt, funktioniert das ganz gut. Die drei Bewohner des kleinen Hauses sind längst an diesen Rhythmus gewohnt. Wenn Silàn gegen Mittag aufsteht, hilft sie bei der Hausarbeit und im Garten. Abends, wenn ihre Kraft zunimmt, kümmert sich Antim um ihre magische Ausbildung.
Seit sie vor zwei Jahreszyklen bei ihm Aufnahme fand, lernte sie von dem alten Schattenwandler eine Menge wichtiger Dinge. Silàn lächelt still vor sich hin, als sie sich erinnert, wie sie damals hier ankam.

In jener Vollmondnacht öffnete sie mit roher Magie das Tor zwischen den Welten und verabschiedete sich von Andres und Angie, etwas, das bis heute in ihrer Erinnerung schmerzt. Anschließend brachte Silmira sie und A'shei zum Vollmondtanz der Nsilí. Obwohl sie nach dem Öffnen des Tors bereits ziemlich erschöpft war, ließ Silàn es sich nicht nehmen, eine Runde mitzutanzen, gedankenlos glücklich, endlich ihren Weg gewählt zu haben. Erst im Morgengrauen brachte A'shei sie zu Antims Haus zurück, inzwischen längst wieder dem Zusammenbruch nahe. Mit dem Monduntergang verschwanden nicht nur Silmira und ihre Nsilí, Silàns eigene Energie begann bedenklich nachzulassen.
Sie kann sich nur undeutlich erinnern, was danach passierte. Offenbar musste A'shei sie Teile des Wegs tragen. Und als sie endlich Antims Haus erreichten, verlor sie ein weiteres Mal die Besinnung. Als sie später erwachte, lag sie in einem warmen Bett und A'shei schlummerte zusammengerollt daneben am Boden. Eigentlich wollte sie aufstehen, aber sie schlief wieder ein, bevor sie sich dazu aufraffen konnte. Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug blickte sie direkt in Antims strenges Gesicht. Der Magier reichte ihr eine Tasse heißen Tee. Sie verbrannte sich zuerst den Mund und schüttete einen guten Teil des Getränks mit zitternder Hand über die Bettdecke. Antim sagte ein Weile lang überhaupt nichts. Dann seufzte er und begann mit einer langatmigen Erklärung, wie sich ein unvorsichtiger Magier durch den Gebrauch roher Magie selber umbringen kann. Silàn hörte betreten zu. Was wollte sie schon erwidern? Silmira hatte bereits etwas Ähnliches erwähnt. Und irgendwie leuchtete ihr das auch ein. Trotzdem, sie bereute es nicht, das Tor geöffnet zu haben. Und Antim akzeptierte das im Grunde genommen. Nur verlangte er von ihr, in Zukunft keine Magie mehr auszuüben, bevor sie nicht wusste, wie sie damit umzugehen hatte und was sie damit anrichten konnte. Das versprach sie ihm, bevor sie in einen weiteren tiefen Erschöpfungsschlaf fiel.
Es dauerte einen halben Mond, bis sie zum ersten Mal das Bett für einige Stunden verlassen konnte. Erst später erfuhr sie, dass Antim in dieser Zeit alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel einsetzte, um sie vor Femolais Jägern zu verbergen. Bereits wenige Nächte nach ihrer Rückkehr hatten die Nsilí Zeichen einer fremden Anwesenheit im Wald entdeckt. Sie machten Silmira darauf aufmerksam, dass die Xylin verstört wirkten. Die Seherin meldete dies sofort Antim, da sie selber nicht in der Lage war, außerhalb der Mondscheinstunden Magie zu wirken und das Mädchen zu beschützen. Sie half dem alten Schattenwandler dabei, alle Spuren von Silàns Magie am Tor zu löschen und ihre Anwesenheit so gut wie möglich zu verbergen. Dass Silàn völlig erschöpft und die meiste Zeit bewusstlos war, kam diesen Anstrengungen entgegen. So war sie nicht in der Lage, durch weitere magische Aktivität die Aufmerksamkeit ihrer Verfolger auf sich zu lenken.
A'shei streifte unterdessen durch den Wald und verjagte mit seinem Bogen schließlich eine Gruppe von Wölfen, die sich in der Nähe des Tors herumtrieben. Das allein war ein Beweis, dass Femolai die Hand im Spiel hatte. Die Wolfsrudel hatten sie als eines der ersten Völker der Nacht als Königin akzeptiert. Aber Wölfe können keine Magie ausüben und A'sheis gut gezielte Pfeile erreichten ihre Wirkung, wenn er auch keines der Tiere wirklich schwer verwundete. Etwas anderes waren die Kaedin. Diese Wesen der Nacht ließen sich nicht von Pfeilen abschrecken. A'shei bekam sie aber gar nie zu Gesicht. Nur Silmiras Nsilí berichteten wiederholt, dass ‹Dunkelheiten› im Wald herumgeisterten. Die Kaedin, genau so scheu und fremdartig wie die Xylin, ließen sich kaum jemals blicken. Aber sie waren Femolai treu ergeben, ihre Spione und Botengänger. Eigentlich liebten Kaedin den Wald nicht. Sie lebten mit Vorliebe in den feuchten Flussebenen, wo sie sich in dichten Nebelbänken lautlos und ungesehen bewegen konnten. Deshalb war die Wahrscheinlichkeit groß, dass Silàns Magie beziehungsweise Femolais Befehl sie hierher gelockt hatte. Aber Antims kleines Reich im Hochtal war bereits seit langem durch Abwehrmagie geschützt. Der Schattenwandler sorgte dafür, dass niemand sein Gebiet unbemerkt betreten konnte, auch nicht Kaedin. Außerdem wurden magische Aktivitäten innerhalb des Tals gegen außen fast vollständig abgeschirmt.

SilànWhere stories live. Discover now