1-9 Mit etwas Unterstützung

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Mit etwas Unterstützung

Tante Judith und der Vater sitzen lesend im Garten, als Bettina heimkommt. Angie läuft ihr am Gartentor entgegen.
«Und, wie ist er, dein Freund? Habt ihr Spaß gehabt?»
Bettina schmunzelt. Ja, sie hat viel Spaß gehabt, aber auch viel Stoff zum Nachdenken bekommen. Onkel Andres ist beim Schuppen dabei, Holz zu spalten und zu stapeln. Er ruft die Mädchen zu sich.
«Angelika, du hast doch versprochen, vor dem Essen dein Zimmer aufzuräumen? Du kannst mir mit dem Holz helfen, Bettina.»
Während die Cousine schmollend ins Haus geht, beginnt Bettina schweigend neben dem Onkel Holz zu stapeln. Andres betrachtet sie nachdenklich von der Seite und formuliert schließlich leise eine Frage.
«Ist er wirklich so weise, der alte Lehrer Antim?»
Das Mädchen zögert. Aber dann entscheidet es sich für Offenheit.
«Ja, ich glaube schon. Er ist beeindruckend und weiß sehr viel. Er möchte, dass ich morgen Abend wiederkomme. Silmira wird da sein. Es gibt noch so viel, was ich nicht verstehe und trotzdem wissen muss!»
Andres spürt die Verzweiflung des Mädchens.
«Deine Mutter erzählte von Silmira. Sie war ihre Freundin?»
«Ja, ihre beste Freundin und so etwas wie meine Taufpatin. Sie ist ein Mondlicht und hat deshalb kurz nach Neumond nur für wenige Stunden einen Körper. Darum müsste ich bereits kurz nach Sonnenuntergang oben bei Antims Haus sein.»
Der Onkel mustert sie neugierig und lächelt.
«Du erinnerst mich je länger je mehr an Tanàn. Pass auf, dass du solche Dinge nicht vor Judith oder Peter sagst, sie würden dich für verrückt halten.»
«Und du, hältst du mich auch für verrückt?»
Andres stapelt eine Weile wortlos Holz. Schließlich schüttelt den Kopf.
«Nein, ich halte dich nicht für verrückt. Dazu habe ich Tanàn zu gut gekannt. Peter glaubte, sie hätte eine blühende Phantasie und würde diese Dinge erfinden. Aber ich wusste, dass mehr dahinter steht. Ich habe sie im Licht des Vollmondes gesehen und werde diesen Anblick niemals vergessen ... Nun, wenn sie so wichtig ist, werden wir sehen müssen, dass du deine Verabredung morgen einhalten kannst.»
In diesem Moment steckt Stefan den Kopf um die Hausecke und ruft zum Essen. Sie flüstert deshalb nur leise ihren Dank, während sie dem still lächelnden Onkel ins Haus folgt.

Andres Plan ist einfach. Er versprach Angie schon lange, mit ihr die jungen Füchse zu beobachten. Das geht am besten bei Sonnenuntergang. Als er Bettina fragt, ob sie mitkommen wolle, nickt sie eifrig. Stefan bleibt lieber zu Hause, er meint abschätzig, Füchse seien nur etwas für Mädchen. Sie brechen am späten Nachmittag mit warmen Kleidern und Taschenlampen ausgerüstet Richtung Wald auf und wollen erst spät zurückkehren. Bettina fürchtet, dass der Spiegel verschlossen ist, wenn sie nicht alleine kommt. Aber sobald sie vom Haus aus nicht mehr zu sehen sind, hält der Onkel an.
«Los jetzt, Silàn. Wir werden eine gute Stunde nach Monduntergang hier auf dich warten. Reicht dir das?»
Bettina glaubt, das schaffen zu können, wenn sie sich auf dem Rückweg beeilt. Angie versteht nicht, was los ist, und verlangt eine Erklärung.
«Keine Sorge, wir beide besuchen nun wie versprochen den Fuchsbau. Aber deine Cousine hat eine andere Verabredung. Kannst du ein Geheimnis bewahren?»
«Geht es um Bettinas Freund? Klar kann ich ein Geheimnis behalten, ich bin schließlich zwölf. Was ist denn dieses wichtige Geheimnis?»
«Bettina wird ihre Taufpatin besuchen. Sie war eine Freundin ihrer Mutter. Aber Onkel Peter und Judith sollen davon nichts erfahren, sie mögen Silmira nicht.»
Erleichtert darüber, dass Angie keine weiteren Fragen stellt und bereit ist, das nicht sehr spannende Geheimnis zu hüten, läuft Bettina los. Andres und Angelika schauen ihr nach, bis sie im Dickicht bei den alten Eichen verschwindet.

A'shei wartet am Spiegel. Die Zeit bis zum Sonnenuntergang wird knapp und sie legen die einfacheren Wegstrecken laufend zurück. Ziemlich außer Atem erreichen sie Antims Hochtal. A'shei grinst übers ganze Gesicht, der Wettlauf hat ihm Spaß gemacht und das Mädchen ist ihm, wenn nicht an Kraft so doch an Gewandtheit, ebenbürtig. Der alte Schattenwandler sitzt vor seinem Haus und genießt die letzten Strahlen der Abendsonne. Eine Mahlzeit aus Käse und Brot steht bereit. A'shei und Silàn essen mit großem Appetit, während die Sonne hinter den Bergen im Westen versinkt.
«Silmira wird erst kommen, wenn es dunkel ist. Wir werden bis Monduntergang nur wenig Zeit haben. Was möchtest du am dringendsten wissen?»
Bettina seufzt. Sie weiß nicht genug, um die richtigen Fragen zu stellen. Antim nickt verständnisvoll und steht auf, um Tee aufzugießen. Dann lässt er A'shei für das Mädchen die Zeichen der Schrift der Schattenwandler aufzeichnen. Bettina schaut interessiert zu und fragt nach, wenn sie etwas nicht versteht. Die Zeichen sind ihr völlig fremd, aber folgen einer inneren Logik. Bald ist es zu dunkel, um noch lesen zu können. Antim erzählt daraufhin die Legende von der Herkunft der Nsilí, der Kinder des Mondlichts. Er erreicht die Stelle, wo eine Träne des Mondes zur Erde fällt und sich in die Urmutter der Nsilí verwandelt, als über der Wiese vor dem Haus einige winzige weiße Funken zu tanzen beginnen. Es werden immer mehr, bis sich aus dem Funkenregen Silmiras Gestalt zusammensetzt. Bettina hält den Atem an. Silmira tritt mit einigen raschen Schritten zu ihr und ergreift ihre Hände. Sie nickt der Reihe nach allen freundlich zu.
«Antim, Silàn, A'shei. Es freut mich dass die Verabredung klappt. Grüße aus dem Silitatal!»
«Deine Mondlichtflügel haben dich in diesem halben Mond weit getragen, Silmira. Wir haben lange nichts aus Silita gehört. Wie steht es im Westen?»
Antims Frage klingt neugierig und etwas besorgt. Silmira wiegt nachdenklich den Kopf.
«Besser und schlechter als ich vermutete. Es gibt noch einen Stamm von Drachenschatten, die sich an die alte Ordnung halten. Aber das sind Dinge, die wir in einer anderen Nacht erörtern können. Heute sollten wir uns über die Konsequenzen der Ankunft Silàns unterhalten.»
Antim lehnt sich gegen die Hauswand und reibt sich nachdenklich das Kinn.
«Nun, das hängt in erster Linie davon ab, ob Silàn hierbleibt oder ob sie in die Welt hinter dem Spiegel zurückgeht. Die Entscheidung liegt allein bei ihr. Tanàn sah sich nicht in der Lage, das Erbe von Silita anzutreten. Niemand hat das Recht, ihre Tochter dazu zu zwingen.»
Silmira blickt das Mädchen erschrocken an.
«Möchtest du denn in der Welt hinter dem Spiegel leben? Nach dem, was mir Tanàn erzählte, muss das Leben dort kompliziert sein und Freundschaft zählt den Menschen wenig.»
«Ich kann das nicht beurteilen. Ich kenne kein anderes Leben. Ich kann meine Familie nicht einfach verlassen. Nächstes Jahr werde ich mich für einen Beruf entscheiden müssen, eine Ausbildung beginnen oder weiter zur Schule gehen. Sonst werde ich später Probleme haben, eine gute Stelle zu finden. Falls ich jetzt weglaufe, kann ich nie mehr in meine Welt zurückkehren.»
Für Bettina klingen die eigenen Worte und Argumente seltsam unverständlich und bedeutungslos. Antim bedeutet Silmira gedankenverloren, sich zu setzen.
«Silàn, du musst dich nicht heute entscheiden. Aber bedenke, dass du in unserer Welt bald als volljährig giltst. Du bist eine Tochter der Nacht und obwohl du bisher keine entsprechende Ausbildung erhalten hast, bin ich sicher, dass du deine Begabung schnell entfalten wirst. In deiner Welt kann dich niemand lehren, deine Kräfte zu nutzen. Mädchen wie dich mag es dort viele geben. Silita und die Nacht haben nur eine Erbin.»
Silmira nickt zustimmend. Dann holt sie aus einer versteckten Tasche ihres Kleids einen kleinen schillernden Gegenstand hervor, den sie Bettina reicht.
«Hier, ich habe dir aus Silita-Suan eines der letzten Blütenblätter des Mondbaums mitgebracht. Ich weiß nicht, ob er jemals wieder blühen wird. Er ist so alt wie das Haus Silita und wie dieses im Sterben begriffen. Allein deine Kraft kann ihn vielleicht noch retten.»
Bettina betrachtet verwundert das schillernde Blütenblatt. Es ist hart wie Porzellan und glänzt im Mondlicht in allen Farben des Regenbogens.
«Behalte es, es wird nicht welken, solange eine Tochter von Silita es trägt. Es wird dir Glück bringen in den Zeiten, die vor dir liegen, wie auch immer deine Entscheidung ausfällt.»
Antim betrachtet das Blatt nachdenklich.
«Ich hätte nicht gedacht, dass der Mondbaum noch einmal blüht. Er muss die Rückkehr von Silàn spüren. Ich glaube, mit dir kehrt Hoffnung in diese Welt zurück.»
Das Glockenläuten der Xylin lässt alle aufblicken. Ein Schwarm der leuchtenden Kugeln nähert sich über der Wiese.
Bettina streckt ihnen unbewusst eine Hand entgegen. Eine der Kugeln lässt sich sanft darauf nieder. Während die inzwischen bekannten Farben sich zu einem Bild ordnen, vergisst sie alles um sich herum. Die Stimme der Xyl ist sanft und leise.
‹Viele wünschen Rückkehr der Königinnen. Manche fürchten sich davor. Tanàn suchte hinter Spiegel Wahrheit und fand eine Tochter. Tanàn hat ersten Teil der Prophezeiung erfüllt. Silàn ist ihre Antwort. Xylin leuchten für letzte Tochter von Silita. Xylin können Land hinter Spiegel nicht besuchen. Xylin schenken Silàn ihr Licht.›
Das Mädchen versucht, die Flut von Informationen zu ordnen.
«Ihr möchtet also auch, dass ich hier bleibe. Ich möchte das ja auch. Aber ich kann meinen Vater nicht verlassen.»
‹Xylin vertrauen Silàn. Silàn muss Silmira vertrauen. Silmira spricht wahr.›
Damit wirbeln die Kugeln davon. Das Mädchen reißt erschrocken die Augen auf. Silmira steht mit ausgebreiteten Armen auf der Wiese, die schmale Sichel des Mondes hängt über dem Horizont. Die Gewänder der Nsil bewegen sich wie in einem starken Wind, obwohl kein Hauch zu spüren ist. Langsam dreht sie sich zu Bettina um.
«Ich spürte deine Kraft, als du mit den Xylin sprachst. Sie ist stärker als diejenige deiner Mutter. Was immer du tust, sei vorsichtig. Deine Wünsche können die Welt verändern. Lass dir von Antim zeigen, wie du deine Begabung nutzen und beherrschen kannst. Ich werde dir helfen soweit ich kann. Aber meine Zeit für heute ist um.»
Mit einigen raschen Schritten steht sie vor dem Mädchen, fasst seine Hände und küsst es auf die Stirn. Dazu muss sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Ihre silberne Gestalt löst sich auf, als der letzte Zipfel des Mondes hinter den Bergen im Westen verschwindet.
Antim räuspert sich.
«Nun, das waren zwei aufschlussreiche Begegnungen. Du sprichst tatsächlich mit den Xylin, und Silmira äußerte sich klarer, als ich es von ihr gewohnt bin. Ich fand Tanàns Kräfte beängstigend. Wenn sie wütend war, wurde am helllichten Tag die Milch sauer. Wenn du tatsächlich stärker bist als deine Mutter, werden wir bald mit deiner Ausbildung beginnen müssen. Aber nicht heute Nacht, wir werden das im Mondlicht angehen.»
Bettina nickt. Sie hat heute nicht die ganze Nacht Zeit.
«Ich habe dem Onkel versprochen, eine Stunde nach Monduntergang am Tor zu sein. Wenn ich mich beeile, schaffe ich das noch. Erlaubst du mir, wiederzukommen?»
«Die Töchter von Silita sind bei Antim immer willkommen. Warte nicht zu lang, Silàn, deine Zeit ist bald nahe.»
A'shei, welcher den ganzen Austausch stumm verfolgte, steht entschlossen auf.
«Komm, ich begleite dich zurück zum Tor.»
Bettina ist darüber nicht unglücklich. Sie glaubt, mittlerweile den Weg zu kennen, aber mit A'shei macht es mehr Spaß, nachts unterwegs zu sein. Sie legen den größten Teil des Abstiegs laufend zurück, bei fast völliger Dunkelheit von Wurzel zu Wurzel zu springend. Als A'shei stolpert, lacht das Mädchen herzhaft. Der Junge erwidert gutmütig, wenn er ebenfalls Augen wie eine Eule hätte, würden ihm nächtliche Wettrennen besser liegen. Außer Atem kommen sie zum Wasserfall und klettern nun etwas langsamer.
«Danke, dass du mich begleitest. Das ist besser als in der Nacht alleine durch den Wald zu laufen.»
«Gern geschehen. Aber ich glaube nicht, dass deine Xylin dir etwas zustoßen lassen würden.»
«Die Xylin gehören nur sich selbst. Ich glaube nicht, dass sie jemanden beschützen könnten, dazu sind sie zu scheu und zerbrechlich. Sie sagen von sich, sie seien Lichtbringer und Botengänger.»
«Du weißt bereits mehr über sie als Antim und Silmira zusammen.»
Das Mädchen lächelt, wird dann aber gleich wieder nachdenklich. Was A'shei sagt, mag stimmen. Aber obwohl sie die Xylin versteht, fehlen ihr immer noch zu viele Steinchen, um das Mosaik dieser Geschichte zusammenzufügen. Aber A'shei ist unschuldig an dieser Situation. Sie seufzt.
«Wenn es auf die Xylin und dich ankäme, würde ich sofort hier bleiben. Aber all dieses Gerede von Erbschaft und Königinnen macht mir Angst. Antim und Silmira erhoffen sich etwas von mir, was ich ihnen nicht geben kann.»
«Silmira, vielleicht. Antim ist zu alt und weise dafür. Er wird dir helfen, wenn er kann und wenn du ihn darum bittest. Es ist nicht seine Art, ein anderes Wesen zu etwas zu zwingen. Das weiß ich bestimmt, ich kenne ihn schon sehr lange.»
Inzwischen sind sie beim Tor zwischen den alten Eichen angelangt. Es ist fast ganz dunkel unter dem dichten Blätterdach. Bettina kann A'shei trotzdem erkennen. Der Junge lächelt und drückt ihre Hand.
«Komm bald zurück, Silàn, ich warte auf dich.»
«Das werde ich, A'shei, so bald wie möglich.»
Sie erreicht rasch den Waldrand, wo Andres und Angelika auf der Bank unter einem Holunderbaum warten. Andres erklärt der Cousine die Sternbilder. Angie hört fasziniert zu und zeigt Bettina stolz, was sie bereits alles erkennt: die beiden Bären, und Cassiopeia. Während sie nach Hause spazieren, fragt sich Silàn zum ersten Mal, warum die Konstellationen hinter dem Spiegel ganz anders aussehen, anders, und trotzdem vertraut.

SilànWhere stories live. Discover now