1-16 Silmiras Schatten

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Silmiras Schatten

Das Warten wird ihr lang. Silàn lauscht den Geräuschen der Nacht, zuversichtlich, einen magischen Hilferuf abgesandt zu haben. Als der Mond untergeht kehrt sie trotzdem beunruhigt nach Hause zurück. Silmira kann in dieser Nacht nicht mehr kommen, sie muss also auf den nächsten Mondaufgang warten.
Am nächsten Abend ist sie zurück sobald es dunkel genug ist, um aus dem Haus zu schleichen. Sie wartete den ganzen Tag auf diesen Augenblick, in der Hoffnung, der Spiegel habe sich vielleicht tagsüber geöffnet. Aber das Tor ist immer noch verschlossen. Enttäuscht bleibt sie am Eingang stehen, der durch die beiden grossen Eichen rechts und links des Wegs markiert ist. Sie atmet tief durch und zeichnet mit dem Finger zuerst den Stern für A'shei und dann die Zeichen für Silmira. Die magischen Formen leuchten stärker denn je, ihre Geschicklichkeit nimmt zu. Wie gewohnt verstummen die Geräusche des Waldes, während die Zeichen größer werden und an Leuchtkraft gewinnen, um schließlich in einem Glitzern zu verblassen. In die Stille des nächtlichen Waldes hinein vernimmt sie plötzlich das leise, unverkennbare Glockenläuten der Xylin. Überrascht lacht sie auf und streckt ihre Hand in Richtung des Tors aus. Aber sie kann nirgends eine der leuchtenden Kugeln erkennen. Enttäuscht lässt sie die Hand wieder fallen, als sich vor ihrem inneren Auge die Regenbogenwirbel bilden und sie in ihrem Kopf die leise, kaum wahrnehmbare Stimme einer Xyl vernimmt.
«Silàn hat gerufen, Xylin sind gekommen. Silmira ist unterwegs. Tochter von Silita darf Mut nicht verlieren.»
Das Mädchen lächelt. Vor Erleichterung über diese Worte könnte es weinen.
«Ich bin so froh, dass ihr hier seid. Wisst ihr, wie ich den Spiegel öffnen kann? Bisher war er immer offen. Ich habe keine Ahnung, weshalb er sich verschlossen hat.»
«Macht der Dunkelheit verschließt Tor vor Silàn. Femolais Bann ist stark.»
Die Xylin bestätigen Silàns Befürchtungen. Sie schluckt leer, bevor sie mit fester Stimme nachhakt.
«Wisst ihr, wie ich den Spiegel öffnen kann?»
«Xylin sind Lichtbringer, Botengänger, keine Toröffner. Kraft der Xylin lässt nach, Silàn muss Geduld haben. Silmira kommt.»
Mit diesen Worten verstummt die Xyl, die Gedankenverbindung erlischt. Enttäuscht nimmt Silàn ihren gewohnten Platz am Stamm der Eiche ein, um eine weitere Nachtwache zu beginnen. Sie lauscht den Geräuschen des Waldes. Das Rascheln der Blätter, der Schrei eines Käuzchens, das Zirpen einer Grille oder einer Fledermaus sind ihr inzwischen so vertraut wie früher der Verkehrslärm der Stadt. Sie denkt an Thomas, der meinte, sie habe ein Talent im Umgang mit Tieren, und an A'shei, der ihr seinen Wald zeigte und sie durch diese fremde Welt führte. Wenn sie sich zwischen den beiden Jungen entscheiden müsste, würde ihr das schwer fallen. Aber dann muss sie beim Gedanken an Angie lächeln, für die Thomas der einzige Held ist. Sie würde der Schwester niemals den Freund ausspannen. Seltsam, wie sicher sie ist, dass die beiden füreinander bestimmt sind, trotz des Altersunterschieds. Während Silàn diesen Gedanken nachhängt, verstummen plötzlich die Geräusche des Waldes. Das Licht des beinahe vollen Mondes filtert gespenstisch durch das Blätterdach. Silàn hält den Atem an. Sie ist sich sicher, dass gleich irgendetwas passieren wird. Da erkennt sie direkt vor dem Tor am Boden einen dunklen Schatten. Er bewegt sich langsam auf sie zu, ein schwarzer Fleck dicht über dem vom Mondlicht gesprenkelten Waldboden. Erschrocken springt sie auf und weicht einige Schritte zurück. Der Schatten verharrt und eine heisere Stimme flüstert leise ihren Namen.
«Silàn, lauf nicht weg. Ich bin froh, dass ich endlich einen Weg hierher gefunden habe.»
«Silmira? Bist du das?»
Die Stimme des Mädchens ist ungläubig als es zusieht, wie der Schatten sich verfestigt. Er bleibt durchscheinend, wie ein dunkler Fetzen Nebel. Seine Konturen bewegen sich beinahe unmerklich und nehmen eine Form an, die der Gestalt von Silmira ähnelt. Silàn nähert sich zögernd der dunklen Erscheinung.
«Silmira? Was ist mit dir passiert? Ich habe dich fast nicht erkannt!»
Die Stimme des Mondlichts bleibt leise und heiser, als hätte Silmira Mühe zu sprechen.
«Silàn. Ich besitze in dieser Welt keinen Körper. Was mir erlaubt, hier zu existieren, sind allein deine Magie und die Kraft des Mondes. Du hast mich gerufen. Ich hörte dich bereits letzte Nacht, brauchte aber lange, bis ich die Blockade durchdringen konnte. Femolai hat gut gearbeitet.»
«Also ist sie es, die mich aussperrt?»
«Ja, sie legte einen Zauberbann über das Tor. Aber deine Magie scheint der ihren gewachsen oder sogar überlegen zu sein. Allerdings haben wir wohl Glück, dass sie anderswo beschäftigt ist und keine Kaedin für die Bewachung dieses Tors einsetzte. Sie will sich morgen bei Vollmond zur Königin der Nacht krönen lassen. Offenbar unterschätzt sie dich gewaltig. Ich denke, dass sie annimmt, du seist in dieser Welt so hilflos wie deine Mutter Tanàn es war.»
Silàn seufzt. Auch wenn sie unendlich erleichtert ist, mit Silmira zu sprechen, kommt es ihr noch nicht so vor, als hätte sie die Blockade gebrochen.
«Was muss ich tun, um das Tor zu öffnen? Ich habe keine Ahnung, wie ich vorgehen soll. Meine wenigen Zauberzeichen zeigen nicht viel Wirkung.»
Silàn kann Silmiras Gesicht nicht erkennen, aber ihre Stimme drückt Belustigung aus.
«Du hast gerade erst deine Kraft entdeckt und es geschafft, eine Botschaft durch die Blockade einer ausgebildeten Magierin der Dunkelheit zu schicken. Und du hast nicht nur mich erreicht, sondern auch deinen Freund A'shei. Er kam bereits vorgestern völlig aufgeregt bei Antim an und behauptete, er habe deinen Hilferuf durchs Tor gehört. Seitdem halten die Xylin am Spiegel Wache und versuchen, zu dir durchzudringen. Heute war dein Ruf so stark, dass er einen Pfad öffnete, dem ich folgen konnte. Genau so rief Tanàn in der Nacht deiner Geburt nach mir, und da brachte sie ihre ganze Magie, ihre letzte Kraft in einem verzweifelten Aufschrei zum Tragen.»
«Silmira, ich bin dir sehr dankbar, dass du gekommen bist. Kannst du mich mit zurück nehmen?»
Die Schattengestalt bewegt sich im Wind, fließt etwas auseinander und formt sich neu.
«Nein, du kannst deinen Körper nicht hier zurücklassen. Du wirst den Blockadebann brechen müssen. Aber ich denke, ich kann dir die nötigen Zeichen für einen richtigen Spruch beibringen, wenn du genug Geduld aufbringst.»
Das ist für das Mädchen keine Frage. Genau so wenig, wie es nicht mehr daran zweifelt, dass sein Platz in jener anderen Welt ist. Silàns Entscheidung ist gefallen - es wird schmerzen, ihre neu gefundene Familie zurückzulassen, aber sie weiß, dass dies ihr Weg ist. Sie setzt sich auf die Wurzel und beginnt unter Silmiras Anleitung geduldig, magische Zeichen zu formen. Das ist nicht einfach, weil ihre körperlose Patin ihr nur beschreiben kann, wie sie die Finger bewegen muss. Aber ausgehend von den Formen, die sie in den letzten Tagen meisterte, vergrößert sich ihr Repertoire im Lauf der Nacht beträchtlich. Schließlich nähert sich der Mond dem Horizont und Silmira erklärt, sie müsse aufbrechen, bevor ihre Kraft mit dem Monduntergang schwinde. Das Mädchen ist enttäuscht, noch beherrscht es den Spruch zum Öffnen des Tors nicht. Aber die Seherin der Nsilí verspricht, nächste Nacht wiederzukommen, um Silàn heimzuholen. Bevor ihr Schatten endgültig verblasst verabschiedet sie sich mit einer beinahe schalkhaften Bemerkung.
«Keine Angst, wir holen dich heim, rechtzeitig zum Vollmondtanz.»
Obwohl Silàn seit dem Monduntergang todmüde ist, bleibt sie am Tor sitzen und übt magische Zeichen, bis die Sonne aufgeht und es Zeit wird, nach Hause zurückzukehren.
Heute Abend will sie bereit sein, Femolais Blockade zu brechen, mit echter Magie.

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