2-1 Ranoz

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Zweites Buch

Silberhaar und Sternenwanderer

Ranoz

Hoch über dem Tal von Silita liegt eine steile Felsklippe, welche scheinbar endlos in den Himmel reicht. Der Berg ist schroff und zerklüftet und trägt auch im Sommer eine zerrissene Kappe ewigen Schnees. Der Gipfel wird meist von einer Wolke verhüllt, die vom Wind zerzaust wie eine lange Fahne am Himmel steht. Vom Tal aus ist die Spitze des Berges nur selten zu erkennen. Kaum jemand wagt es, diesen sturmgepeitschten Gipfel zu besteigen und viele, die es versuchten, kehrten nicht zurück. Zahllose Legenden ranken sich um Hrantosh, den Drachenberg. Eine davon sagt, dass hier oben unheimliche Wesen wohnen, die nachts ihre Kreise ziehen, bevor sie auf die Jagd gehen. Wonach sie jagen, das will niemand genau wissen.

Eine der zahllosen tiefen Klüfte unterhalb der Spitze des Hrantosh birgt den Horst eines alten Drachenschattens. In der Nacht sitzt er oft vor seiner Felsenfestung und schaut hinunter auf die zerfallene Burg, das Stammhaus des großen Geschlechts Silita. Ranoz blickt zurück auf ein langes Leben, länger als es für einen Menschen vorstellbar ist. Nur die Ijenkaedí und vielleicht die Xylin besitzen eine längere Erinnerung als ein Hrankae, ein Drachenschatten. Von diesem Felsen aus wachte Ranoz viele Jahre über das Tal und die Burg von Silita, sah zahllose Königinnen kommen und gehen, die Kraft von Magiern wachsen und wieder schwinden.
Ranoz ist der älteste aller Drachenschatten. Er erinnert sich an die Zeit, als Silàn das Haus von Silita gründete. Und er weiß noch, wie er ihr damals als erster seiner Art die Treue schwor. Einen Schwur, den er ein Leben lang gehalten hat, nicht nur der Gründerin des Hauses gegenüber, sondern auch ihren Nachfolgerinnen. Bis dann Haonàn, die stolze Haonàn, seine Freundin Haonàn starb, ohne ihr Amt und ihr Wissen an ihre junge Tochter Tanàn weiterzugeben.

Ranoz schnaubt verächtlich und Rauch kräuselt sich vor seinen Nüstern. Typisch, dass die verwöhnte Prinzessin Tanàn nicht bereit war, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Bereits als kleines Kind spielte sie lieber mit den Mondlichtern herum, als sich um ihre Ausbildung zu kümmern. Experimentierte lieber mit einfacher Mondlichtmagie, statt sich die komplexe Magie der Nacht anzueignen. Zog lieber zu einem weit entfernt lebenden Schattenwandler, als sich auf ihre Funktion als Ahranan der Drachenschatten vorzubereiten. Und als Haonàn schließlich krank wurde, blieb ihre Tochter unauffindbar, war irgendwo mit dieser Silmira unterwegs. Ranoz schüttelt schnaubend seine großen, ledrigen Flügel aus und faltet sie ordentlich am Rücken zusammen.
Er hat der jungen Magierin das, was er damals als Verrat empfand, noch nicht verziehen. Ein Gerücht besagt, Tanàn sei längst tot, verstorben in einer fremden, magielosen Welt. Damit wäre das Haus Silita erloschen, das alte Bündnis wertlos. Trotzdem gibt Ranoz seinen Horst hoch über Silita-Suan nicht auf. Immer noch wandert sein Blick täglich hinunter auf die Burg, welche von Jahr zu Jahr weiter verfällt. Die jüngeren Hrankaedí schütteln nur ihren Kopf über den Ältesten. Sie sagen, er hätte bei Haonàns Tod den Verstand verloren. Allerdings tun sie das wohlweislich nie in seiner Anwesenheit.
Drachenschatten wachsen nur langsam, stellen dafür aber niemals das Wachstum ein. Ranoz ist nicht nur größer und stärker als alle jüngeren seiner Gattung, sein Atem ist seit langer Zeit heiß genug, um Feuer zu entfachen. Zahlreiche Narben zeugen davon, dass er zu kämpfen weiß und dass er bisher niemals ernsthaft verwundet wurde.
Nicht, dass es für gewöhnliche menschliche Augen möglich wäre, seine Narben, seine lederartige, schuppige Haut oder seine Flügel zu erkennen. Hrankaedí gehören zu den Wesen der Nacht und wie die Kaedin wirken sie für die meisten Augen wie dunkle Schatten oder schwarze Rauchschwaden. Es gehört eine besondere Begabung dazu, durch diesen Nebel hindurchzusehen und den Drachen im Schatten zu erkennen.

Ranoz kneift die großen, goldenen Augen mit der schräggeschlitzten Pupille zusammen, um noch einmal einen Blick hinunter auf die Burg zu werfen. Nichts hat sich verändert. Dabei war er voller Hoffnung, als vor über zwei Jahren eines Nachts der Mondbaum Silfanu, der immer noch im oberen Hof der Burg Silita steht, an einem seiner karg in den Himmel gestreckten Ästen eine einzelne Blüte hervorbrachte. Kurz darauf kam Silmira. Sie besuchte Ranoz, aber er war nicht bereit, mit ihr zu sprechen. Die Seherin der Nsilí gehörte zu jenen, die Tanàn von ihrer Mutter entfremdet hatten.
Im Nachhinein muss Ranoz missmutig zugeben, dass es vielleicht ein Fehler war, nicht auf die Nsil einzugehen. Sie erzählte etwas von einer möglichen Erbin von Silita. Erst als Silmira enttäuscht wieder gegangen war, kam ihm in den Sinn, dass die einsame Blüte des Mondbaums mit ihrer Geschichte in Zusammenhang stehen könnte. Aber da war es bereits zu spät. Die Blütenblätter des Mondbaums waren verwelkt und abgefallen, Silmira ihren unergründlichen Mondlichtwegen gefolgt.

Seitdem geschah nicht viel. Nur einmal verspürte Ranoz einen Moment lang eine starke Bewegung in der Magie der Nacht. Sie war rasch vorüber und muss nun auch schon über zwei Jahreszyklen zurückliegen. Er fand nie heraus, was damals passierte. Vielleicht war die Krönung Femolais zur Königin der Dunkelheit die Ursache. Allerdings zeigte die selbsternannte Königin sonst nie die Fähigkeit, soviel magische Energie aufbieten zu können.
Inzwischen verlangen einige der jüngeren Drachenschatten, sich der neuen Königin der Dunkelheit anzuschließen. Aber Ranoz traut Femolai nicht und die meisten seiner Art ziehen vor, unabhängig zu bleiben. Noch kann er eine Spaltung im Volk der Hrankaedí verhindern. Noch steht der Mondbaum auf der Burg Silita. Solange Ranoz lebt, bindet sein Schwur nicht nur ihn, sondern sein ganzes Volkes. Aber er fürchtet, dass er sich bald den Fragen seiner Artgenossen stellen muss, dass ihre Unzufriedenheit wächst.
Mit einem Schnauben dreht er sich um. Bald wird die Sonne aufgehen, es ist Zeit, sich in seine Höhle zurückzuziehen.
In diesem Moment spürt Ranoz schwach aber deutlich eine Verschiebung in der Magie der Nacht. Er kennt dieses Gefühl, erlebte es schon mehrmals, vor der Geburt von Silàn von Silita, vor ihrer Krönung zur Königin der Nacht, vor der Geburt von Ureshàn, vor dem Tod von Haonàn und bei zahlreichen anderen wichtigen Gelegenheiten. Er betrachtet es als Vorankündigung eines großen magischen Ereignisses, Vorahnung einer Veränderung. Ranoz blinzelt zweimal mit den Lidern, auf einmal nicht sicher, ob er es wirklich gefühlt hat. Aber die Verschiebung ist noch da, eine Spannung, eine statische Aufladung in der Quelle der Energie der Nacht.
Irgendwo ist eine wichtige Entscheidung gefallen. Ob zum Guten oder zum Schlechten muss sich noch zeigen. Aber der Älteste der Drachenschatten weiß, dass die Zeit des Wartens zu Ende geht. Ranoz ist bereit, was immer dieses Zeichen ankündigen mag. Als er sich auf dem Lager zusammenrollt, wo er normalerweise die Tagesstunden verschläft, stößt er einige kleine Rauchwolken aus, um zum ersten Mal seit sehr langer Zeit mit einem zufriedenen Lächeln auf den schuppigen Drachenlippen einzuschlafen.

SilànWhere stories live. Discover now