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POV Stegi

In der Nacht hatte ich mich schließlich soweit beruhigt, dass ich nicht mehr ständig in Weinkrämpfe ausbrach. Vielleicht hatte ich auch einfach keine Tränen mehr übrig. Mein Magen knurrte bestialisch, aber ich beachtete ihn nicht. Ich war vollkommen in meinen Gedanken versunken. So detailgetreu wie möglich versuchte ich mir Tim vorzustellen. Tim, wie er ritt, wie er mich tröstend in seine Arme zog, wie er mich küsste und wie weich sich seine Lippen dabei angefühlt hatten. Die Bilder verblassten bereits an einigen Stellen. So oft ich mir auch seine braunen Augen ins Gedächtnis zurückrufen wollte, so oft scheiterte ich auch. Sie waren etwas einzigartiges gewesen, tief und dunkel wie ein Nachthimmel hatten sie das Licht in sich aufgesogen und doch trotzdem so sehr gestrahlt. Ich schaffte es einfach nicht, ihre Intensität in meinem Kopf widerzuspiegeln. Frustriert presste ich meine Stirn in mein Kopfkissen. Es war doch eh hoffnungslos!

Plötzlich hörte ich eine Etage unter mir Stimmen. Ich verstand nicht genau, was sie sagten, aber ich konnte eindeutig feststellen, dass es mein Bruder und meine Schwester waren, die sich da unterhielten. Vorsichtig ließ ich mich aus dem Bett gleiten, legte mein Ohr auf den Boden und lauschte ihrem Gespräch.

"-du so spät nochmal weg? Und was soll die dunkle Kleidung?" Das war meine Schwester gewesen, sie klang müde und ich stellte mir unfreiwillig vor, wie sie sich lasziv auf ihrem Himmelbett räkelte. Die nächste Stimme kam von meinem Bruder: "Ich soll nochmal losgehen, sagen unsere Eltern. In ein paar Stunden bin ich wieder da. Obwohl ich eigentlich zu gerne mit ansehen möchte, wie dieser hässliche Bauernhof in Flammen aufgeht!"

Erschrocken vergaß ich zu atmen. E-er wollte den Hof anzünden?! Oh nein... Nein, nein! Sie hatten versprochen, Tim und Molly in Ruhe zu lassen! Aber vermutlich hätte ich wissen sollen, dass meine Familie nicht mit offenen Karten spielte... Was sollte ich jetzt tun? Ich musste die beiden unbedingt warnen, aber wie? Von unten hörte ich das Mädchen noch verzückt kichern, dann entfernten sich Schritte und es wurde still. Die Uhr tickte.

Hastig schaute ich mich um und mein Blick blieb schließlich an meinem Fenster hängen. Vielleicht wäre es mir auch gelungen, mit Gewalt die verschlossene Zimmertür aufzubrechen, aber das wäre viel zu laut geworden. Das Fenster stattdessen ließ sich ankippen und auch vollständig öffnen, was mich überraschte. Ich hätte gedacht, meine Familie wäre nach meinem letzten Ausbruch vorsichtiger geworden und hätte alle Fenster fest versiegelt. Aber entweder hatten sie dieses hier vergessen oder sie vertrauten immer noch darauf, dass meine Höhenangst mich lähmen würde.

Nachdem ich mich aufs Dach gehievt hatte, musste ich bereits die erste Pause einlegen. Mein Rücken fühlte sich an, als würde er jeden Moment zerbrechen und ich brauchte eine Minute, bis ich mich wieder aufrappeln und zum Rand kriechen konnte. Weiter. Einfach weiter, egal was es kostete!

Seit ich von Rexis Rücken nur mit Hilfe hatte absteigen können, hatte ich versucht, etwas gegen meine Furcht zu unternehmen. Zwar wurde mir immer noch schwindelig, wenn ich zu lange hinunter schaute, aber ich hatte gelernt, wie ich mich zusammenreißen und auf andere Sachen konzentrieren konnte. So gelang es mir, entlang der Dachkante nach der Regenrinne zu suchen, sie mit den Beinen voran zu umklammern und dann Stück für Stück an ihr herunter zu rutschen. Es war absolut unangenehm und mein Herz klopfte mir bis zum Hals vor Aufregung und Angst, aber als ich den Boden unbeschadet erreicht hatte, überflutete mich die Erleichterung. Ich hatte es geschafft! Ich war ein zweites Mal entkommen! Und diesmal würde ich nicht zurückkommen, niemals, unter keinen Umständen!

Das Auto meines Bruders stand schon nicht mehr in unserer Einfahrt, als ich leise ums Haus schlich. Er hatte einen riesigen Vorsprung vor mir, ich durfte keine weitere Sekunde verlieren! Also sprintete ich los auf dem selben Weg, den ich damals schon gerannt war, leere Straßen entlang, in den Park und dann in den Wald dahinter. Überraschenderweise fand ich mich hier beinahe augenblicklich zurecht, ich erkannte Reitwege wieder, Kreuzungen und besonders knorrige Bäume, die mir oft als Wegweiser gedient hatten. Rechts von mir würde ich an den kleinen Teich kommen, noch weiter dahinter kam ich irgendwann an den verbotenen Reitweg, der wegen Steinschlag gesperrt war. Links hatten wir meine Uhr gefunden und an den Ast gehängt. Also bog ich dorthin ab und musste jetzt nur noch diesem Weg bis zum Ende folgen.

Mein Rücken war durch meinen Lauf schnell ertaubt und solange ich ihn nicht beachtete, blieb das Stechen erträglich. Meine Gedanken waren vollständig bei Tim und Molly. Haltet durch! Nur noch ein paar Minuten, ich hatte es fast geschafft!


POV Tim

Am Abend hatte ich mich weit genug beruhigt, um zurück nach Hause zu reiten. Ich musste noch den Bauarbeitern Bescheid sagen, dass es keinen Auftrag mehr gab, und ich musste mich um die Sache mit dem Gericht kümmern. Das Geld war mir jetzt völlig egal, wir brauchten es nicht mehr. Wir würden wie ursprünglich geplant drei der Schweinchen durchfüttern, die restlichen in etwa einem Jahr schlachten oder abgeben und alles so weitermachen wie bisher immer. Auch wenn es schwerfiel.

Müde stieg ich von Rexi ab, führte sie in ihre Box, sperrte die Hühner ein und ging dann ins Haus zu Molly. "Tschuldige bitte was ich vorhin gesagt habe", murmelte ich reuevoll. Es war wirklich unmöglich von mir gewesen. Aber sie winkte ab, vielleicht hatte sie mir bereits verziehen dafür, dass ich ihr fehlendes Einfühlungsvermögen vorgeworfen hatte. "Gibt jetzt halt nur noch uns beide", flüsterte ich, ließ mich auf die Küchenbank fallen und spielte mit dem Besteck. Oben in meinem Zimmer lag noch die Bettwäsche, in der Stegi geschlafen hatte. Ich wollte sie so schnell wie möglich loswerden, sein Duft würde den Verlust nur noch schlimmer machen. Lustlos stach ich in Mollys selbst gezogenem Gemüse herum, als meine Mutter plötzlich aufsah. "Tim? Hast du vergessen, das Licht im Stall auszumachen?" Desinteressiert blickte ich auf und runzelte die Stirn. "Eigentlich nicht", brummte ich, stand auf und schlurfte zum Fenster. Tatsache, durch die Ritzen im Holz flackerte es hell. Aber.. da stimmte doch etwas nicht! Es gab nur einen zentralen Lichtschalter, der alle Lampen mit einem Mal einschaltete. Jetzt brannte das Licht nur an einer Stelle. Moment mal, brennen...?

Ich stolperte fast über meine eigenen Füße, als ich nach draußen stürzte und mit weit aufgerissenen Augen auf den Stall zusteuerte. Meine schlimmsten Vermutungen bestätigten sich! Die Luft roch bereits nach Qualm und verbranntem Stroh! Wie hatte das passieren können, ich war eben noch dort gewesen und hatte nach dem rechten geschaut!

Die Flügeltore klemmten, als ich an ihnen rüttelte. Komm schon, nicht jetzt! Da drinnen saßen unschuldige Tiere fest! Gerade als ich sie endlich aufgestemmt hatte, stand Molly hinter mir, zum ersten Mal seit ich sie kannte, zitterte sie am ganzen Körper. "Lass uns gehen! Wenn der Stall erst richtig in Flammen steht, sind wir hier nicht mehr sicher, der ganze Wald wird lichterloh brennen!"

"Aber da drin sind unsere Freunde! Da sind Charon, Rexi, Emma, alle! Ich werde so viele wie möglich befreien, lauf du solange du noch kannst! Lass mich das machen! Sonst verzeihe ich mir das niemals!"

Mit diesen Worten sprintete ich los in den Stall und machte aus, von wo das Feuer genau kam. Überall schrien die ängstlichen Tiere durcheinander, irgendwo hörte ich Holz bersten und im nächsten Moment stürmte ein völlig aufgelöster Kyle an mir vorbei, der Rappe wieherte und kratzte mit seinen Hufen wild über den Boden, als er auf das Tor zusteuerte.

Das Feuer war in der Sattelkammer ausgebrochen und war bereits zu groß, um es noch zu löschen. Also riss ich zuerst die Boxen in der Nähe auf und schob und zog die Tiere nach draußen, die zu verängstigt waren, um von selbst zu flüchten. Coco, die zweite Sau und der Eber waren die ersten, dann folgten mehrere Kühe, die beiden Kaninchen, zwischendurch rannte ich zu den wenigen kleinen Fenstern und riss sie auf, um frische Luft in meine Lungen zu tanken. Als nächste Rexi, Emma, Tsunami und die Ferkel von Cora. Um mich herum wurde es immer heißer und stickiger. Durch den Qualm konnte ich kaum noch etwas sehen, aber ich musste meine Aufgabe durchziehen, koste es was es wollte! Fast alle Einwohner des Stalls waren bereits befreit, die Hühner standen zum Glück noch ein wenig abseits, fehlten nur noch Misty und-

Vor Schreck blieb ich hustend stehen und wirbelte herum. Charon! Er musste auch noch hier irgendwo sein! Nur wo? Ich hatte ihn bisher nirgendwo gesehen! War er vielleicht wie Kyle bereits frei gekommen, bevor das Feuer ihm den Ausweg versperren konnte? Selbst wenn, ich würde ihn suchen, ich konnte ihn nicht zurücklassen! An ihm hingen Mollys Erinnerungen und meine Träume, mit ihm wollte ich mein erstes Turnier reiten, bekannt werden, die Leute ins Staunen versetzen! Noch war es zu früh für uns beide, um den Löffel abzugeben.

Ein Knacken über meinem Kopf ließ mich innehalten. Keine Chance da noch etwas zu erkennen, alles war voll schwarzem, undurchsichtigem Rauch. Ich musste wieder husten, atmete gequält ein und wurde plötzlich durch einen heftigen Schlag zu Boden geworfen. Schnell gelang es mir noch, die Hände vor den Kopf zu reißen, doch durch den Aufprall verlor ich dennoch das Bewusstsein.

Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)Where stories live. Discover now