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Die Schulklingel läutete den Schluss der letzten Stunde ein und alle Schüler sprangen begeistert von ihren Stühlen auf. Freitag! Endlich Wochenende! Ihnen allen winkten zwei schöne und entspannte Tage bei ihren Familien, über die sie dann am Montag ausführlich mit ihren Freunden quatschen konnten. Nur ich blieb sitzen, ignorierte das allgemeine Taschenpacken und Schnattern um mich herum und starrte mit auf den verschränkten Armen ruhendem Kinn Löcher in die Tafel, die unsere Lehrerin soeben abwischte. Schnell war der gesamte Raum leer und nur sie und ich waren noch übrig.

"Willst du nicht auch gehen?", fragte sie wie jedes Mal, ohne sich umzudrehen. Ich konnte auch so heraushören, dass sie ehrlich besorgt war, schon bevor sie den Schwamm weglegte und näher kam. Ich seufzte und schüttelte den Kopf.

"Kopf hoch Marcus, es ist doch nur ein Wochenende. Danach wirst du deine Eltern eine Woche lang nicht sehen", meinte sie aufmunternd. Sie war eine der wenigen Personen, die meine Probleme kannten und mit mir darüber sprachen. Ihr zuliebe rebellierte ich kaum, griff langsam und wie in Trance nach Federmappe, Hefter und Buch und ließ alles einzeln in meinen Ranzen gleiten. Nachdem ich meine Jacke vom Kleiderhaken genommen hatte, blieb ich noch ein paar Sekunden stehen in der Hoffnung darauf, vielleicht doch hierbleiben zu dürfen, aber das war ja leider gegen das Gesetz der Privatschule. Dementsprechend lächelte mir die junge Frau, die wieder nach vorne an ihr Pult zurückgekehrt war, nur noch einmal mitleidig zu, ehe ich alleine das Schulgebäude verließ und so langsam wie möglich nach Hause lief.

Der Grund, warum ich nicht nach Hause wollte, war simpel. Meine Eltern behandelten mich nicht gut, und das war noch nett ausgedrückt. Jedes Wochenende musste ich ihnen den Butler spielen, obwohl sie mehr als genug Geld besaßen, um einen richtigen Bediensteten für unsere Villa anstellen zu können. Machte ich meine Arbeit in dieser Zeit nicht gut, schlugen sie mich auch oder gaben mir andere Strafen. Zu verstehen, warum ausgerechnet ich dieses Los gezogen hatte, war viel schwieriger für mich. Als ich noch klein war, hatte ich mich sehr bemüht, zum Rest der Familie zu gehören, und trotzdem war ich von uns drei Geschwistern der schwarze Peter.

Mein großer Bruder war zweiundzwanzig, reiste aktuell viel um die Welt und lebte zu einhundert Prozent auf Tasche unserer Eltern, die ihrem Schatz das aber gerne gönnten. Genauso wie die zwei Autos die er besaß: Ein Cabrio Gran Turismo und einen Jaguar Lyonheart, falls er mal wieder zu seiner Freundin nach London fahren wollte. Er war der Wonneproppen, der Favorit, der Lieblingssohn von uns beiden. Und das ließ er mich jedes Mal spüren, wenn er uns besuchen kam. Vielleicht hätte ich mit meiner Rolle ein klein wenig besser leben können, wenn er mich ignorieren würde und die Schikane stattdessen unseren Eltern überließ. Das tat er aber nicht, dafür liebte er es zu sehr, mich zu quälen und mir ständig unter die Nase zu reiben, wie wenig ich wert war im Vergleich zu ihm.

Meine achtzehn Jahre alte Schwester hatte die Schule abgebrochen, um Model zu werden. Noch hatten die „erbärmlichen Agenturen ihr Talent noch nicht entdeckt". Das hinderte sie aber nicht daran, fleißig weiter ihre unzähligen Kleiderschränke zu füllen, stundenlang in ihrem Zimmer Fotoshootings zu inszenieren und gelegentlich auch für den Rest der Familie live eine Bademodenshow hinzulegen. Selbstbewusstsein hatte sie also genug und an ihrem Körper konnten die Absagen auch nicht liegen. Doch wer sie näher kennenlernte, entdeckte leicht ihre sadistische Seite, bemerkte das hässliche Funkeln in ihren Augen oder wurde Opfer ihrer herrischen Befehlshaberei. Insgeheim war ich froh, dass diese Charakterzüge wohl für immer im Weg ihrer Wunschkarriere stehen würden. Ansonsten würde sie nur noch unausstehlicher werden.

Und ich, Marcus Penzel, war mit vierzehn Jahren das jüngste Kind der Familie. Von meinen Klassenkameraden hörte ich manchmal, dass ihre kleinen Geschwister von den Eltern verhätschelt und bevorzugt wurden, aber bei mir war es halt anders herum. Ich wusste nicht mehr genau, wann es angefangen hatte, dafür war es schon zu lange her. Doch ich wusste noch, wie es angefangen hatte: Stundenlange Standpauken für den kleinsten Fehltritt. Dann die Vergleiche mit meinem aalglatten Bruder, der damals schon das Aushängeschild von uns Sprösslingen gewesen war. Danach kamen die Hausarbeiten. Putzen. Wäsche waschen, trocknen und bügeln. Kochen. Nur das Einkaufen blieb mir erspart, da man mir kein Geld anvertraute.

Nach außen hin bemühten meine Eltern sich weiterhin um eine reinweiße Weste. Deswegen besuchte ich auch eine Privatschule und keine stinknormale Regelschule. Aber das hieß auch, dass ich regelmäßig meine Mitmenschen anlügen musste, wenn wieder einmal ein blauer Fleck meine Arme zierte. Meine Lehrerin war die einzige hier, die die Wahrheit kannte, und sie konnte nichts dagegen tun, da ihre Arbeit es ihr verbot. Sie würde aus der Schule geschmissen werden, wenn sie sich gegen die Leute auflehnte, die ihren Arbeitsplatz so großzügig finanzierten.

Bloß ein einziges Mal hatte ich den Versuch gewagt, von Zuhause wegzulaufen. Und das hatte ich teuer bezahlt. Bis die Schnitte, die der Gürtel meines Vaters auf meiner Haut hinterlassen hatten, wieder verheilten und verschwanden, waren viele Woche vergangen. Meinen Mitschülern hatte ich erzählen müssen, dass unsere zahme Nachbarskatze Miezi Schuld gewesen war, weil ich ihr versehentlich auf den Schwanz getreten war. Aber dabei hatte ich mich so unendlich geschämt. Für die Lügen. Für meine Feigheit und mein Versagen. Für meine Familie. Für alles, einfach alles. Und exakt in diese Hölle kehrte ich gerade zurück. So wie jeden Freitag seit so vielen Jahren.

Ein schönes, silbern verchromtes Auto mit offenem Dach parkte vor unserem Haus und glänzte und blitzte mir schon von weitem entgegen. Mein Herz krampfte sich unangenehm zusammen. Das hieß, mein Bruder blieb über die beiden Tage und würde mir diese Zeit noch mehr als normal schon vermiesen. Kurz blieb ich stehen und überlegte, ob ich nicht doch umkehren sollte. Wenn ich mich durch ein Fenster in die Schule schlich und mich in mein Zimmer über den Klassenräumen einschloss, würde mich niemand bemerken. Dann konnte ich bis Montag dort bleiben! Aber die Folgen mochte ich mir nicht ausmalen. Also stolperte ich weiter, während sich mein ganzer Körper vor Nervosität anspannte.

Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)Where stories live. Discover now