12.

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Der Hof musste noch größer sein, als ich vom Haupthaus aus gedacht hatte. Hinter dem Stall erstreckte sich in der Größe eines halben Fußballfeldes eine abgesteckte und ebenfalls mit zusammengenagelten Brettern umzäunte Fläche, auf der kein einziger Grashalm wuchs und die stattdessen mit nackter Erde und groben Holzspänen bedeckt war. Ganz am Rand war der Boden am meisten herunter getrampelt und führte im Oval einmal komplett um den Platz. Eine Spur Hufabdrücke überlagerte die nächste. Schien so, als würden hier täglich Pferde ausgeführt.

Tim war in der Mitte stehengeblieben und winkte mich näher. "Der Anfang ist immer leicht. Versuch einfach nur, es dir so bequem wie möglich zu machen. Heute machen wir nur Schritt, keine Panik also, am besten ist, wenn du dich ein bisschen mit Mistys Schritten mitschaukeln lässt. Die Zügel sind heute nur Deko, die brauchst du noch nicht. Nimm sie ruhig mal auf, experimentier ein wenig, wie sie dir gut in der Hand liegen, aber zieh nicht zu stark an ihnen, das könnte der Guten sonst wehtun. Ansonsten führe ich dich, okay?"

Ich nickte, während ich versuchte, mir das gesagte und bereits neu gelernte von diesem Tag einzuprägen. War immerhin ganz schön viel für heute gewesen. "Und was ist mit deinem Pferd? Wie heißt der eigentlich?"

"Die", korrigierte Tim mich grinsend, "sie ist ein Shire Horse und heißt Rexi. Mit der werde ich nach deiner Trainingseinheit noch ein wenig hier rumcruisen."

Jetzt fiel mir auch kein Gesprächsstoff mehr ein, um den Start noch weiter hinauszuzögern. Denn so sehr ich darauf gespannt war, wie sich das Reiten anfühlte, so viel Angst hatte ich auch davor. Ich sah es schon vor mir, wie Misty sich erschrak und losrannte, Tim mit sich zog und mich irgendwann von ihrem Rücken warf. Ganz vertraute ich ihrer Ruhe bisher nämlich noch nicht.

Der Junge zeigte mir, dass ich meinen Fuß in das runde Metallteil, den Steigbügel am Sattel, stellen sollte und wuchtete mich dann mit viel Schwung an den Oberschenkeln nach oben, und noch immer hielt die Stute still. Sobald ich oben saß, umklammerte ich mit den Fingern den Rand des Sattels vor meinen gespreizten Beinen und wartete, bis Tim laut schnalzte und sich mein schwankendes Gefährt in Bewegung versetzte. Wie von alleine trottete Misty auf die Außenstrecke zu und wir drei drehten einige Runden, nach denen es mir irgendwann auch gelang, die Hände einzeln und kurz von ihrem sicheren Halt zu nehmen und wie von Tim befohlen die Zügel zu greifen. In dem Moment blinzelte er mir ermutigend von unten zu als wolle er mir sagen: Na siehst du? Ich wusste, du kannst das und es macht dir Spaß!

Und zum ersten Mal heute waren plötzlich alle Sorgen vergessen. Auf einem Pferd zu sitzen und die Umgebung von hier oben an mir vorbei schippern zu sehen war das beste Gefühl, das ich je gehabt hatte. Ich richtete mich ein wenig weiter auf, um die neue Freiheit von meinen Sorgen zu genießen und spürte sofort, wie sehr Mistys schaukelnde Schritte mich noch aus der Bahn warfen. Also Augen schnell wieder aufmachen und mich ihren Schwüngen anpassen. Schnell merkte ich, dass ich mich auf gar keinen Fall dabei verkrampfen durfte, sondern locker mitgehen musste, vergleichbar mit Treppenstufen, die man hinunter läuft und dabei die Hüften mitbewegt. Sonst tat mir jeder von Mistys Schritten weh wie ein Aufprall.

Ich war so versunken in meine neue Beschäftigung, das ich gar nicht merkte, wie Tim die Leine erst immer länger ließ und schließlich ganz aus der Hand gab. Aber als ich ihn mehrere Meter hinter mir winken sah, war sofort die Panik wieder da. Ich verfiel in alte Muster zurück, schmiss die Zügel auf Mistys Hals und klammerte mich an den Sattel. Mit einem Schlag fühlten sich die Bewegungen gar nicht mehr angenehm, sondern hart und schwerfällig an. Leicht zitternd ertrug ich eine Runde, die Misty auch ohne einen Strickführer artig einhielt, bis wir wieder bei dem Jungen angekommen waren. "War nicht so gut?", fragte er besorgt. "Schrecklich", bestätigte ich ihm nuschelnd. Tim schien zu grübeln. Dann hatte er eine neue Idee: "Okay, ich führe dich wieder und du streckst abwechselnd deine Arme zur Seite aus. Du kannst meinetwegen den Sattel zur Hilfe nehmen, aber am Ende des Tages solltest du mindestens einmal kurz mit beiden Armen gleichzeitig losgelassen haben. Schaffst du das?"

Er wartete gar nicht mehr auf meine Antwort, trieb Misty nur wieder an und spähte ab und zu zu mir hoch, ob ich auch tat, was er wollte. Und irgendwann, als ich mich wieder in den Rhythmus ihrer Schritte eingefunden hatte, löste ich meine linke Hand vollständig und hielt sie ausgestreckt nach draußen. Danach wechseln, die rechte Hand zur Seite. Das war ja gar nicht so schwer! Kurzzeitig dachte ich an das Bullenreiten, das ich mal beim Aufräumen aus den Augenwinkeln im Fernsehen beobachtet hatte. Hoffentlich war hier kein Pferd so ungezähmt und bockig wie die gehörnten Tiere aus der Arena...

"Und jetzt mal beide Arme, nur kurz, keine Angst! Du kannst eigentlich nicht fallen!", rief mir Tim zu und auf seine Worte vertrauend erfüllte ich seinen Wunsch. Ich hörte ihn jubeln, konzentrierte mich aber nur auf einen Punkt in der Ferne, während ich mich ausbalancierte. Eine Viertelrunde lang ließ ich mich noch freihändig tragen, dann hielt ich mich sicherheitshalber wieder am Leder unter mir fest.

Ich atmete schwer, als Tim mir wenig später sagte, dass ich jetzt absteigen könnte. Meine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an und so überraschte es mich auch nicht, dass ich, sofort als ich wieder auf festem Boden stand, wegknickte und mich beinahe auf meinen Hintern setzte. Beinahe.

"Wow wow wow, alles gut? Tut was weh?", fragte mein Mentor alarmiert. Er hatte seine Arme unter meinen Achseln hindurch geschlungen, nachdem ich eben gegen ihn getaumelt war, und so meinen Sturz verhindert. Leicht benommen verneinte ich. "Nur erschöpft", murmelte ich und erschrak ein wenig, als er einen Arm von mir löste, nur um ihn im nächsten Moment unter meine Beine zu legen und mich hochzuheben. Obwohl er so dünn wirkte, war er unglaublich stark und trug mich problemlos zum Rand der Trainingsfläche. "Ruh dich erstmal aus, ich lass Misty nur nochmal ein wenig Traben, dann können wir sie noch füttern. Oder kannst du wirklich nicht mehr?"

Füttern klang gut, das würde ich hinbekommen. Tim hatte verstanden, erleichtert ging er zurück, löste den Strick von Mistys - wie hieß das noch gleich? Ach ja, Halfter! - und trieb sie dann mit einem Klaps gegen ihr Hinterteil an. Es dauerte auch nicht lange, bis die Stute einen Zahn zulegte und scheinbar zu traben begann, dieselbe Strecke wie vorhin mit mir entlang. Auch Tims Pferd hielt es irgendwann nicht mehr geduldig neben ihrem Herren aus und mit seiner Zustimmung jagte sie dem Apfelschimmel hinterher. Die beiden gaben ein schönes Gespann ab, wie sie nebeneinander herzogen, die Riesin neben der Zwergin. Es stimmte was man erzählte, Pferde hatten eine unglaublich beruhigende Wirkung.

Zeig mir was Leben ist! (#Stexpert)Där berättelser lever. Upptäck nu