18.

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Ein paar Wochen vergingen recht ereignislos. Ich war jetzt voll eingeplant, ließ frühs die Hühner auf die Wiese, fütterte die Kühe, Schweine und zwei Kaninchen, die mir zuvor gar nicht aufgefallen waren, versorgte alle mit neuem Heu und kehrte dann noch die Gänge zwischen den Boxen. Damit war locker ein ganzer Vormittag verplant. Aber so langweilig das auch klingen mochte, es war das schönste Leben, das ich mir vorstellen konnte! Hier zwang mich niemand dazu zu arbeiten, ich tat es gerne und freiwillig. Und sogar die Tiere gaben mir in ihrer Sprache und Eigenart zu verstehen, dass sie mich gut leiden konnten. Längst hatte die trächtige Schweinedame einen Narren an mir gefressen und wartete jeden Tag darauf, dass ich sie besuchte, hinter den nackten, dicken Öhrchen kraulte und anschließend eine heimliche Extraportion Futter zusteckte.

Am Nachmittag unterwies Tim mich zum Zeitvertreib ein wenig in Tischlerarbeiten und im Schnitzen. Tatsächlich stammte ein kleiner Teil der hölzernen Möbel im Haupthaus von ihm; Die anderen, älteren Stücke und alle technischen und wahnsinnig raffiniert ausgearbeiteten Tüftelarbeiten wie das Warmwasser, die Dusche und der Abfluss der Toilette waren noch Hinterlassenschaften von seinem Vater. Und obwohl er knapp vor oder nach Tims Geburt verstorben sein musste, befand sich das alles noch im fabelhaften Zustand! Das Talent zum Basteln und für sämtliche Handwerksarbeiten hatte er zum Glück an seinen Sohn weitervererbt. Ich hingegen hatte schlichtweg noch nicht genug Kraft dafür, um lange mit Säge, Hammer und Meißel oder mit einem Messer zu hantieren. Aber Tim blieb optimistisch. Kommt noch mit der Zeit, hatte er gemeint und mir zugezwinkert.

Danach gab er mir wieder Reitstunden und wenn es langsam dunkel wurde, misteten wir noch in allen Boxen aus. Nie im Leben hätte ich mir erträumt, wie schwer es auf Dauer sein konnte, ein paar Pferdeäpfel von einem Ort an einen anderen zu heben. Und sei es nur in die Schubkarre am Eingang zur Box. Jedes Mal war ich zum Schluss hin klatschnass durchgeschwitzt. Nur gut, dass ich von Molly Tims Kinderklamotten geschenkt bekommen hatte, die mir wie angegossen passten und uns aussehen ließ, als seien wir Geschwister. Und ich empfand für Tim auch immer mehr wie für einen großen Bruder. Gewissermaßen war er mein Vorbild geworden.

Nur auf Ausritte ließ er mich noch nicht mitreiten. Jeden Abend nach dem Essen sollte ich stattdessen die Hühner wieder einsperren und mich schonmal ohne ihn schlafen legen. Auch beim Training hatten wir vorerst ein wenig abgebremst. Tim meinte, ich sollte erst einmal die bereits gelernten Grundlagen festigen, an meiner Haltung feilen und mich an das Pferd gewöhnen, bis es mir so natürlich vorkam wie Fahrrad fahren. Ich protestierte nicht dagegen, dazu hatte ich noch zu viel Respekt vor der letzten Gangart, vor dem Galopp. Das hatte Tim mir mal gezeigt, als ich geschmollt hatte, warum es nicht weiterginge. Bis dahin war es wirklich noch ein steiniger Weg für mich, das hatte ich im Nachhinein eingesehen. Für den Galopp brauchte ich Körperbeherrschung, Mut und vollstes Vertrauen zu meinem Reittier!

Und bis heute, eineinhalb Monate seit meiner Ankunft, hatte ich auch stete Fortschritte gemacht, aber dann passierte natürlich, was passieren musste.

Tim ließ mich antraben, ich drückte Misty die Fersen in die Seiten und ging mit ihren Schritten im Sattel auf und ab, wie ich es immer geübt hatte. Absolut keine Schwierigkeit mehr. Auch dass keine Leine mich und Tim mehr verband und ich jetzt selbst mit den Zügeln meinen Weg steuern musste, bereitete mir keine Probleme. "Sehr gut, jetzt einmal schräg über den Platz!"

Ich wendete scharf, gab Acht dass Misty nicht zurück in den Schritt verfiel und wollte gerade die Strecke in Angriff nehmen, als Tim sich plötzlich umdrehte, hektisch die Hände hob und mir signalisierte, sofort stehen zu bleiben. Einen Augenblick zu spät. Ein Pickup mit breitem Anhänger näherte sich dem Hof und fuhr dabei sehr dicht an unserem Reitplatz vorbei. Misty hatte ihn auch gesehen, geriet aus dem Takt und wieherte erschrocken. Ich spürte noch, wie sie ruckartig anhielt, aus der vorgegebenen Reitspur sprang und sich plötzlich der Sattel in die Schräglage erhob. Sie stieg! Im nächsten Moment purzelte ich auch schon rückwärts von ihr herunter und schlug hart auf der festgetretenen Erde auf. Sofort war Tim an meiner Seite. "Stegi? Stegi! Gehts dir gut? Was tut dir weh?"

Benommen blinzelte ich. Noch drehte sich alles vor meinen Augen und der Lärm des Pickups übertönte sämtliche anderen Geräusche. "Ich weiß nicht", nuschelte ich und versuchte, mich zu bewegen. Soweit funktionierte noch alles, nur als ich mich auf mein rechtes Handgelenk stützen wollte, um mich aufzurichten, knickte ich mit einem Schmerzenslaut um. Besorgt krempelte Tim ganz vorsichtig den Ärmel zurück und besah sich die dicke, rot anschwellende Stelle. "Scheiße. Kannst du deine Finger noch bewegen?"

Ich versuchte es. An der betroffenen Stelle pulsierte es aber nur dumpf. "Gut, schonmal nicht gebrochen, Gott sei Dank! Noch etwas anderes?" Aber sonst war alles in Ordnung, ein paar blaue Flecken würde ich vermutlich bekommen, aber nichts ernsthaftes. Vorwurfsvoll warf ich Misty einen bösen Blick zu, wie sie ängstlich am gegenüberliegenden Ende des Platzes auf und ab lief, wieherte und das große Auto nicht einmal aus den Augen ließ. Nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, gelang es Tim auch, sie durch gutes Zureden zu sich zu locken und mich mit ihr im Schlepptau bis zum Haus zu stützen.

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